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Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Titel: Brunetti 01 - Venezianisches Finale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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einer Vorstellung hält der Dirigent die Dinge zusammen, er achtet darauf, dass die Sänger sich an die richtigen Tempi halten, dass sie vom Orchester unterstützt werden, dass die Einsätze stimmen, dass keiner dem anderen davonrennt. Er muss auch darauf achten, dass sein Orchester nicht zu laut wird, dass die Crescendi sich aufbauen und dramatisch sind, gleichzeitig aber die Sänger nicht übertönen. Wenn der Dirigent so etwas hört, kann er die Musiker mit einer Hand-Bewegung zurückpfeifen, oder indem er den Finger an den Mund legt.« Zur Illustration demonstrierte er die Gesten, die Brunetti in vielen Konzerten oder Opern beobachtet hatte.
    »Und er muss in jeder Sekunde alles im Griff haben: den Chor, die Sänger, das Orchester und sie in perfektem Gleichgewicht halten. Tut er das nicht, fällt die ganze Geschichte auseinander und man hört nur noch Einzelteile, aber nicht die Oper als Ganzes.«
    »Und in der Nacht, in der Wellauer starb?«
    »Die zentrale Kontrolle war nicht da. Manchmal wurde das Orchester so laut, dass ich die Sänger nicht hören konnte und ich bin sicher, sie hatten Probleme, sich gegenseitig zu hören. Dann wieder spielte das Orchester zu schnell und die Sänger hatten Mühe mitzukommen. Oder umgekehrt.«
    »Hat das außer Ihnen noch jemand im Theater gemerkt, Professor?«
    Rezzonico hob die Brauen und schnaubte verächtlich. »Commissario, ich weiß nicht, wie gut Sie das venezianische Publikum kennen, aber das größte Kompliment, das man ihm machen kann, lautet: Es ist eine Horde von Affen. Sie gehen nicht ins Theater, um Musik zu hören, oder gute Sänger; sie gehen hin, um ihre neue Garderobe auszuführen und von ihren Freunden gesehen zu werden und diese Freunde sind aus genau dem gleichen Grunde dort. Sie könnten die Dorfkapelle aus dem kleinsten Kaff Siziliens in den Orchestergraben setzen und aus dem Publikum würde keiner den Unterschied hören. Prächtige Kostüme und ein raffiniertes Bühnenbild garantieren den Erfolg, eine moderne Oper oder Sänger, die keine Italiener sind, den Reinfall.« Der Professor merkte, dass er anfing zu dozieren, senkte die Stimme und fügte hinzu: »Aber die Antwort auf Ihre Frage ist nein, ich bezweifle, dass viele Leute gemerkt haben, was da vorging.«
    »Die anderen Kritiker?«
    Wieder schnaubte der Professor verächtlich. »Außer Narciso von La Repubblica gibt es keinen Musiker unter ihnen. Manche gehen einfach in die Proben und schreiben danach ihre Kritiken. Manche können nicht einmal eine Partitur lesen. Nein, echte Urteilsfähigkeit gibt es da nicht.«
    »Was war Ihrer Meinung nach der Grund für Maestro Wellauers Versagen, wenn das der richtige Ausdruck ist?«
    »Da gibt es viele Möglichkeiten. Ein schlechter Tag. Er war immerhin ein alter Mann. Vielleicht hat er sich vor der Vorstellung über irgendetwas aufgeregt. Oder es waren, so lächerlich es klingen mag, nichts weiter als Verdauungsstörungen. Aber was es auch war, er hatte die Musik an dem Abend nicht im Griff. Sie ist ihm entglitten; das Orchester hat sich mehr oder weniger selbständig gemacht und die Sänger versuchten dranzubleiben. Aber bei ihm fehlte weitgehend die Kontrolle.«
    »Fällt Ihnen noch etwas ein, Professor?«
    »Meinen Sie zur Musik?«
    »Dazu oder zu anderen Dingen.«
    Rezzonico überlegte, wobei er diesmal die Finger auf seinem Schoß ineinander verschlang und meinte schließlich: »Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig. Für mich selbst klingt es merkwürdig, weil ich eigentlich nicht weiß, warum ich es sage oder glaube. Aber meinem Eindruck nach hat er es gewusst.«
    »Wie bitte?«
    »Wellauer, ich glaube, er wusste es selbst.«
    »Das mit dem Orchester? Was da vor sich ging?«
    »Ja.«
    »Warum sagen Sie das, Professor?«
    »Es war nach der Szene im zweiten Akt, in der Germont Violetta bittet, Alfredo freizugeben.« Er sah Brunetti an, um zu sehen, ob er die Handlung der Oper kannte. Brunetti nickte und der Professor fuhr fort: »Es ist eine Szene, nach der es immer viel Applaus gibt, besonders, wenn die Sänger so gut sind wie Dardi und Petrelli. Sie waren es und so gab es langen Applaus. Währenddessen habe ich den Maestro beobachtet. Er legte den Stab aufs Pult und ich hatte das seltsame Gefühl, dass er gleich gehen würde, einfach vom Podium steigen und gehen. Entweder habe ich es wirklich gesehen oder es mir eingebildet, aber er schien es gerade tun zu wollen, als der Applaus aufhörte und die ersten Violinen ihre Bogen hoben. Er sah sie,

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