Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Selbst die Anwesenheit eines entthronten Monarchen und eines welkenden Filmstars der fünfziger Jahre konnte ihren Ruf als unheimlichen, rückständigen Ort, wo schreckliche Dinge geschahen, im öffentlichen Bewusstsein nicht aufbessern.
Brunetti kam, wie viele Venezianer, meist nur zum Redentorefest hin, mit dem im Juli das Ende der Pest von 1576 gefeiert wurde. Zwei Tage lang war die Giudecca dann mit der Hauptinsel durch eine Pontonbrücke verbunden, auf der die Gläubigen übers Wasser zur Chiesa del Redentore gehen konnten, um dort Dank zu sagen für einen weiteren Fall jenes göttlichen Eingreifens, das die Stadt immer wieder gerettet oder ausgespart hatte.
Während das Vaporetto der Linie acht seinen Weg durchs aufgewühlte Wasser nahm, stand er an Deck und betrachtete das industrielle Inferno von Marghera in der Ferne, wo Schornsteine flockige Rauchwolken ausstießen, die dann langsam über die Lagune trieben und auf die Stadt niedergingen, um sich an dem weißen istrischen Marmor der Gebäude gütlich zu tun. Er überlegte, welcher göttliche Eingriff die Stadt wohl vor dieser modernen Pest retten könnte, vor dem Ölfilm, der das Wasser der Lagune bedeckte und schon Millionen der Krabben vernichtet hatte, die noch durch die Alpträume seiner Kindheit gekrochen waren. Welcher Erlöser konnte die Stadt vor den grünlichen Rauchschwaden retten, die aus dem Marmor allmählich Baiser machten? Als Mann von begrenztem Glauben konnte er sich keine Rettung vorstellen, weder durch einen Gott noch durch Menschen.
Er stieg am Anleger Zitelle aus und ging links am Ufer entlang auf der Suche nach dem Eingang zum Corte Mosca. Jenseits des Wassers lag die Stadt, glitzernd in der fahlen Wintersonne. Er kam an der Kirche vorbei, die zur Nachmittagssiesta des Herrgotts geschlossen war und gleich dahinter sah er den Eingang zu dem Hof. Der schmale niedrige Durchgang lag in tiefem Schatten und stank nach Katzen.
Am Ende des steinernen Tunnels begann ein verwilderter Garten, der in der Mitte des Innenhofes üppig wucherte. Auf der einen Seite nagte ein Tier, vielleicht eine Katze, an einem fedrigen Etwas. Beim Klang seiner Schritte zog es sich unter einen Rosenbusch zurück und schleifte seine Beute mit. Am anderen Ende des Hofes sah er eine verzogene Holztür. Er ging hinüber, wobei er sich immer wieder von dornigen Ranken befreien musste und klopfte, dann hämmerte er gegen die Tür.
Es dauerte Minuten, bevor die Tür eine Handbreit zurückgezogen wurde und zwei Augen ihn ansahen. Er suche Signora Santina, erklärte er. Die Augen betrachteten ihn eingehend und blinzelten verwirrt, bevor das Dunkel des Hauses sie wieder aufnahm. Mit Rücksicht auf die Gebrechen des Alters wiederholte er seine Frage, diesmal fast schreiend. Daraufhin öffnete sich unter den Augen ein kleines Loch und eine Männerstimme sagte ihm, die Signora wohne drüben am anderen Ende des Hofes.
Brunetti drehte sich um und schaute über den Garten hinweg zurück. Neben dem Eingang, fast verdeckt von einem Haufen aus verrottendem Gras und Zweigen, war ein zweiter niedriger Eingang. Als er sich umdrehte, um sich zu bedanken, wurde die Tür vor seiner Nase zugeschlagen. Vorsichtig stapfte er durch den Garten zurück und klopfte an die andere Tür.
Diesmal musste er noch länger warten. Und als sie endlich aufging, sah er auf derselben Höhe wie vorhin ein Augenpaar und überlegte, ob dieses Wesen es irgendwie fertig gebracht hatte, von einer Seite des Gebäudes auf die andere zu laufen. Aber bei näherem Hinsehen waren diese Augen heller als die anderen und das Gesicht darum herum gehörte eindeutig zu einem weiblichen Wesen, auch wenn es ebenso runzlig und verfroren aussah wie das andere.
»Ja?«, fragte sie und sah zu ihm hoch. Sie war ein kleines Etwas von einer Frau, fest eingewickelt in mehrere Lagen aus Pullovern und Schals. Unter ihren vielen Röcken hing etwas heraus, das wie der Saum eines Flanellnachthemdes aussah. Ihre Füße steckten in dicken wollenen Hausschuhen, wie seine Großmutter sie getragen hatte. Dazu hatte sie einen Herrenmantel übergeworfen, der vorn offen stand.
»Signora Santina?«
»Was wollen Sie?« Die Stimme war hoch und brüchig vom Alter. Schwer zu glauben, dass sie einer der großen Sängerinnen der Vorkriegszeit gehörte. Außerdem hörte er das ganze Misstrauen gegenüber Amtspersonen heraus, das allen Italienern, besonders den älteren, zu Eigen ist. Dieses Misstrauen hatte ihn gelehrt, so lange wie möglich zu
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