Brunetti 01 - Venezianisches Finale
sollte, etwas über einen Skandal zu finden, der den Maestro und eine italienische Sängerin betraf, irgendwann ›vor dem Krieg‹. Er vermied es, Miotti bei diesen vagen Angaben anzusehen. Stattdessen tröstete er ihn damit, dass es vielleicht ein Ablagesystem gebe, das ihm die Suche erleichterte.
Anschließend ging Brunetti durch die Stadt zum Konservatorium, das in einem kleinen Campo beim Ponte dell'Accademia lag. Nach einigem Herumfragen fand er Rezzonicos Seminarraum im dritten Stock, wo der Professor schon wartete, entweder auf ihn oder auf seine Schüler.
Wie es in Venedig so oft passierte, kannte Brunetti den Mann vom Sehen. Und obwohl sie noch nie miteinander gesprochen hatten, wurde durch die freundliche Begrüßung des anderen deutlich, dass Brunetti ihm aus demselben Grund bekannt war. Rezzonico war ein kleiner Mann mit blassem Gesicht und auffallend gepflegten Händen. Er war glatt rasiert, hatte sehr kurz geschnittenes Haar und trug zum dunkelgrauen Anzug eine Krawatte in gedeckten Farben, als kleidete er sich bewusst für seine Rolle als Professor.
»Was kann ich für Sie tun, Commissario?«, fragte er, nachdem Brunetti sich vorgestellt und an einem der Tische im Seminarraum Platz genommen hatte.
»Es geht um Maestro Wellauer.«
»Ah ja«, meinte der andere und seine Stimme wurde trübsinnig, wie zu erwarten gewesen war. »Ein trauriger Verlust für die Musikwelt.« Dieser Mann hatte immerhin den Nachruf geschrieben.
Brunetti legte die entsprechende Anstandspause ein, bevor er fortfuhr. »Wollten Sie eine Kritik über die Aufführung von La Traviata schreiben, Professor?«
»Ja, das wollte ich.«
»Aber sie ist nicht erschienen, oder?«
»Nein, wir haben beschlossen, oder vielmehr der Chefredakteur hat beschlossen, aus Respekt für den Maestro und weil die Vorstellung nicht beendet wurde, damit zu warten und später eine Vorstellung des neuen Dirigenten zu besprechen.«
»Und haben Sie diese Besprechung schon geschrieben?«
»Ja, sie ist in der heutigen Ausgabe erschienen.«
»Tut mir leid, Professor, aber ich hatte noch keine Zeit, sie zu lesen. Ist sie positiv?«
»Im großen und ganzen ja. Die Sänger sind gut und die Petrelli ist hervorragend. Sie ist wohl die einzige Verdi-Sopranistin, die wir derzeit haben, die einzige wirkliche, meine ich. Der Tenor ist nicht so gut, aber er ist noch sehr jung und seine Stimme wird sich wohl entwickeln.«
»Und der Dirigent?«
»Ich habe es in meiner Besprechung gesagt, es ist eine besonders schwierige Aufgabe, unter solchen Umständen einspringen zu müssen. Ein Orchester zu übernehmen, das unter einem anderen geprobt hat, ist keine leichte Sache.«
»Ja, das kann ich verstehen.«
»Aber wenn man alle Schwierigkeiten berücksichtigt, mit denen er konfrontiert war«, fuhr der Professor fort, »dann hat er seine Aufgabe bemerkenswert gut gelöst. Er ist ein sehr begabter junger Mann und er scheint ein besonderes Gefühl für Verdi zu haben.«
»Und was ist mit Maestro Wellauer?«
»Ich verstehe nicht ganz?«
»Wenn Sie die Premiere besprochen hätten, die Vorstellung, die Wellauer bis zur zweiten Pause dirigiert hat, was hätten Sie darüber gesagt?«
»Über die Vorstellung als Ganzes oder über den Maestro?«
»Beides.«
Es war klar, dass die Frage den Professor verwirrte. »Ich weiß nicht recht, was ich darauf antworten soll. Der Tod des Maestros hat alles überflüssig gemacht.«
»Aber wenn Sie diese Kritik geschrieben hätten, was hätten Sie dann über ihn gesagt?«
Der Professor kippte seinen Stuhl nach hinten und faltete die Hände hinter dem Kopf, genau wie es Brunettis Professoren früher getan hatten. Er saß ein Weilchen so da und dachte über die Frage nach, dann ließ er den Stuhl wieder nach vorn auf den Boden schnellen. »Ich fürchte, die Besprechung wäre eine andere gewesen.«
»Inwiefern, Professor?«
»Was die Sänger angeht, wohl ziemlich gleich. Signora Petrelli ist immer wunderbar. Der Tenor hat gut gesungen, wie ich schon sagte und wird mit zunehmender Bühnenerfahrung sicher noch besser werden. Bei der Premiere haben sie etwa genauso gesungen, aber das Ergebnis war anders.« Er sah Brunettis Verwirrung und versuchte zu erklären: »Wissen Sie, ich muss da so viele Jahre ausradieren, in denen ich seine Arbeit verfolgt habe. Es war nicht leicht, an dem Abend zuzuhören, ohne dass die vielen Jahre genialen Künstlertums sich zwischen das drängten, was ich da hörte.
Lassen Sie es mich so erklären: Während
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