Brunetti 01 - Venezianisches Finale
sich hin wie jemand, der zu Bett gehen will. Wie lange eingeübt, glitten die Decken von Rücken- und Armlehnen und hüllten sie ein.
Sie griff nach der Tasse auf dem Tisch neben sich und Brunetti sah, dass ihre Hände knotig und von Arthritis so verformt waren, dass die linke aussah wie ein Haken mit vorstehendem Daumen. Er verstand, dass auch ihre Langsamkeit auf diese Krankheit zurückging. Und während Kälte und Feuchtigkeit seinen Körper belagerten, überlegte er, was es für sie heißen musste, in diesem Loch zu leben.
Sie hatten kein Wort gewechselt, während sie den Kaffee aufwärmte. Jetzt saßen sie in beinah einträchtigem Schweigen, bis sie sich vorbeugte und sagte: »Nehmen Sie Zucker.«
Sie machte keine Anstalten, sich aus ihrem Kokon zu lösen, so griff Brunetti nach dem einzigen Löffel und kratzte etwas Zucker aus der Schale. »Erlauben Sie, Signora«, sagte er und ließ ihn in ihre Tasse gleiten. Er rührte mit dem Löffel um, kratzte ein weiteres Zuckerklümpchen ab und warf es in seine eigene Tasse, wo es fest und ohne sich aufzulösen liegen blieb. Das Gebräu, von dem er trank, war stark, kalt und tödlich. Der Zuckerklumpen, dem es nicht gelungen war, gegen die Bitterkeit des Kaffees anzukommen, schlug ihm an die Zähne. Er nahm noch einen Schluck und stellte seine Tasse ab. Signora Santina ließ ihren unberührt.
Er setzte sich zurecht, sah sich um, ohne seine Neugier vor ihr zu verbergen. Wenn er erwartet hatte, Hinweise auf eine Karriere zu finden, die so steil wie kurz gewesen war, hatte er sich geirrt. Kein Plakat vergangener Premieren hing an diesen Wänden, keine Fotos der Sängerin im Kostüm. Das einzige, was man als Erinnerungsstück hätte bezeichnen können, war ein großes Foto im silbernen Rahmen, das auf einem schäbigen Schreibtisch stand. Darauf waren, im Dreieck gruppiert, drei junge Frauen, oder eher Mädchen, zu sehen, die in die Kamera lächelten.
Ohne die Tasse neben sich zu beachten, fragte sie abrupt: »Was wollen Sie wissen?«
»Stimmt es, dass Sie unter ihm gesungen haben, Signora?«
»Ja. In der Saison 1937. Aber nicht hier.«
»Wo?«
»In München.«
»Und in welcher Oper, Signora?«
»Don Giovanni. Die Deutschen waren immer ganz wild auf ihre eigenen Opern. Die Österreicher ebenso. Also haben wir ihnen Mozart vorgesetzt.« Und mit einem verächtlichen kleinen Schnauben fügte sie hinzu: »Und Wagner. Natürlich hat er ihnen Wagner serviert. Er liebte Wagner.«
»Wer? Wellauer?«
»Nein«, sagte sie, »ilbianchino«, das italienische Wort für Anstreicher und mit ihm brachte sie die Gefühle zum Ausdruck, die unzähligen Menschen das Leben gekostet hatten.
»Und der Maestro, hat er Wagner auch geliebt?«
»Er fand alles gut, was der andere gut fand«, antwortete sie mit unverhüllter Verachtung. »Aber er liebte ihn aus sich heraus, diesen Wagner. Das tun sie alle. Es ist das Brütende, der Schmerz. Das spricht sie an. Ich glaube, sie lieben Leid. Bei sich und anderen.«
Ohne darauf einzugehen, fragte er: »Kannten Sie den Maestro gut, Signora?«
Sie blickte an Brunetti vorbei zu dem Foto, dann auf ihre Hände, die sie sorgsam voneinander fernhielt, als könnte selbst eine zufällige Berührung Schmerzen verursachen. »Ja, ich habe ihn gut gekannt«, sagte sie schließlich.
Nach einer längeren Pause fragte er: »Was können Sie mir über ihn erzählen, Signora?«
»Er war eitel«, meinte sie endlich. »Aber er hatte allen Grund dazu. Er war der größte Dirigent, mit dem ich je gearbeitet habe. Ich habe nicht unter allen gesungen; meine Karriere war zu kurz. Aber von denen, die ich kennen gelernt habe, war er der beste. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er konnte jede beliebige Musik nehmen, sei sie auch noch so bekannt und sie klang neu, als sei sie noch nie gespielt oder gehört worden. Die Musiker mochten ihn meist nicht, aber sie hatten Achtung vor ihm. Er brachte es fertig, dass sie spielten wie die Engel.«
»Sie sagten, Ihre Karriere sei zu kurz gewesen. Wodurch wurde sie beendet?«
Jetzt sah sie ihn an, fragte aber nicht, wie es kam, dass jemand, der sich für einen ihrer Bewunderer ausgab, ihre Geschichte nicht kannte. Schließlich war er Polizist und die logen immer. In allem. »Ich habe mich geweigert, für den Duce zu singen. Das war in Rom, bei der Eröffnungsvorstellung der Saison 1938. Norma. Der Intendant kam kurz vor Beginn hinter die Bühne und sagte mir, wir hätten die Ehre, Mussolini im Publikum zu haben.
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