Brunetti 03 - Venezianische Scharade
konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Hat denn niemand etwas davon gewußt?«
Vianello schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand. Keinen Mucks.«
»Nicht einmal Anitas Onkel?« fragte Brunetti, der damit zugab, daß auch die höheren Ränge die Quelle der Informationen kannten.
Vianellos Antwort wurde durch das Summen der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch unterbrochen. Er nahm den Hörer ab und meldete sich mit: »Ja, Vice-Questore?«
Er hörte ein paar Sekunden zu, sagte dann: »Gewiß, Vice-Questore«, und legte auf.
Brunetti sah ihn fragend an. »Es geht um die Ausländerbehörde. Er möchte wissen, wie lange Burrasca im Lande bleiben kann, nachdem er die Staatsbürgerschaft gewechselt hat.«
Brunetti schüttelte den Kopf. »Man muß den armen Teufel ja wohl fast bedauern.«
Vianello hob mit einem Ruck den Kopf. Er konnte oder wollte sein Erstaunen nicht verbergen. »Bedauern? Ihn?« Nur mit Mühe enthielt er sich eines weiteren Kommentars und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu.
Brunetti ging in sein eigenes Büro zurück. Von dort aus rief er die Questura in Mestre an und bat, mit dem Kollegen verbunden zu werden, der den Fall des ermordeten Transvestiten bearbeitete. Nach wenigen Minuten hatte er einen Sergente Gallo am Apparat, der ihm erklärte, daß man ihm den Fall zugeteilt habe, bis ihn ein höhergestellter Beamter übernehme. Brunetti stellte sich vor und sagte, das sei er. Dann bat er Gallo um einen Wagen, der ihn in einer halben Stunde am Piazzale Roma abholen sollte.
Als Brunetti aus dem schattigen Eingang der Questura kam, traf ihn die Sonne mit voller Wucht. Das grelle Licht, verstärkt durch die Spiegelung vom Kanal, blendete ihn so, daß er in die Brusttasche seines Jacketts griff und seine Sonnenbrille herausholte. Keine fünf Schritte weiter merkte er schon, wie sein Hemd feucht wurde und ihm der Schweiß über den Rücken lief. Er wandte sich nach rechts, denn er hatte spontan beschlossen, zum Anleger San Zaccaria zu gehen und von dort das zweiundachtziger Boot zu nehmen, obwohl der Weg dahin ein ganzes Stück durch die Sonne führte. Die Calli in Richtung Rialto lagen zwar durch die hohen Häuser alle im Schatten, aber es würde doppelt so lange dauern, und ihm graute vor jeder zusätzlichen Minute Weg in der Hitze.
Als er an der Riva degli Schiavoni herauskam und nach links schaute, sah er, daß sein Vaporetto eben am Anleger festgemacht hatte und die Leute bereits ausstiegen. Er wurde vor eine speziell venezianische Entscheidung gestellt: entweder rennen und versuchen, das Boot noch zu erreichen, oder in der brütenden Hitze des schwankenden embarcadero zehn Minuten auf das nächste warten. Er rannte. Während er über die Holzbohlen stürmte, mußte er eine weitere Entscheidung treffen: entweder einen Moment innehalten, um seine Karte an dem gelben Automaten abzustempeln, und dadurch womöglich das Boot verpassen, oder direkt aufs Boot laufen und fünfhundert Lire Strafe zahlen. Aber dann fiel ihm ein, daß er ja beruflich unterwegs war und die Stadt die Kosten tragen mußte.
Schon von diesem kurzen Spurt lief ihm der Schweiß in Strömen über Gesicht und Brust, so daß er lieber an Deck blieb, schon um des schwachen Lüftchens willen, das bei der gemächlichen Fahrt den Canal Grande hinauf entstand. Er blickte um sich und sah die halbnackten Touristen, die Männer und Frauen in ihren Badeanzügen, Shorts und ausgeschnittenen T-Shirts, und einen Augenblick lang beneidete er sie, auch wenn er genau wußte, daß er sich in einem solchen Aufzug höchstens am Strand blicken lassen würde.
Während sein Körper trocknete, schwand der Neid und machte seiner üblichen Verärgerung darüber Platz, daß sie so herumliefen. Wenn sie makellose Körper und makellose Kleidung gehabt hätten, wären sie ihm vielleicht weniger als Ärgernis erschienen. So aber dachte er beim Anblick ihrer schäbigen Kleidung und des noch schäbigeren Zustands vieler der Leiber sehnsüchtig an die erzwungene Bescheidenheit in islamischen Gesellschaften. Er war nicht unbedingt ein »Schönheitsfanatiker«, wie Paola es nannte, hatte aber durchaus nichts gegen ein angenehmes Äußeres. Er verlagerte seine Aufmerksamkeit von den Menschen auf dem Boot zu den Palazzi entlang des Canal Grande, und schon war sein Ärger verflogen. Auch hier waren viele heruntergekommen, aber es war eine Schäbigkeit, die durch viele Jahrhunderte des Gebrauchs entstanden war, nicht durch
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