Brunetti 03 - Venezianische Scharade
dem Spirituellen zuwenden können«. Dieser Minderung weltlicher Sorgen dienten subventionierte Häuser und Wohnungen, die verschiedenen Kirchen in Mestre, Marghera und Venedig gehörten und der Lega zur Verwaltung überlassen worden waren. Im Gegenzug verpflichtete sich die Lega, diese Wohnungen zu Minimalmieten solchen Mitgliedern derjenigen Kirchen zu geben, die den gemeinsam von den Kirchen und der Lega formulierten Anforderungen entsprachen. Zu diesen Anforderungen gehörte, daß sie regelmäßig die Messe besuchten, alle Kinder hatten taufen lassen, einen Brief ihres Gemeindepfarrers vorweisen konnten, der ihnen bescheinigte, daß sie »höchsten moralischen Ansprüchen« genügten - sowie der Nachweis ihrer Bedürftigkeit.
Laut Satzung der Lega oblag die Auswahl der Bewerber dem Vorstand, der samt und sonders aus Laien zu bestehen hatte, um jede Möglichkeit der Günstlingswirtschaft seitens der Kirchenbehörden auszuschließen. Auch die Vorstandsmitglieder hatten höchsten moralischen Ansprüchen zu genügen und mußten einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Gemeinde haben. Von den sechs derzeitigen Vorstandsmitgliedern wurden zwei als »Ehrenmitglieder« geführt. Von den übrigen vier lebte einer in Rom, ein anderer in Paris, der dritte auf der Klosterinsel San Francesco del Deserto. Demnach war das einzige aktive Vorstandsmitglied, das in Venedig lebte, Avvocato Giancarlo Santomauro.
Die ursprüngliche Satzung regelte die Übernahme von zweiundfünfzig Wohnungen in die Verwaltung der Lega. Nach drei Jahren wurde das System als so erfolgreich beurteilt, dies anhand von Briefen und Aussagen von Mietern - sowie der Gemeindevertreter und Priester, die mit ihnen gesprochen hatten -, daß weitere sechs Gemeinden sich zur Teilnahme entschlossen und der Lega weitere dreiundvierzig Wohnungen zur Verwaltung übergaben. Das gleiche geschah drei Jahre später, als der Lega noch einmal siebenundsechzig Wohnungen zufielen, die meisten in Venedigs historischem Stadtkern und Mestres Geschäftszentrum.
Die für die Lega gültige Satzung, die ihr das Verfügungsrecht über die von ihr verwalteten Wohnungen gab, mußte alle drei Jahre bestätigt werden, und diese Prozedur war nach Brunettis Rechnung in diesem Jahr wieder fällig. Er blätterte zurück und las die ersten beiden Berichte des Bewilligungsausschusses. Er sah sich die Unterschriften an: Giancarlo Santomauro hatte beide Male dem Gremium angehört und beide Berichte unterschrieben, den zweiten als Vorsitzender. Und kurz danach war Avvocato Santomauro zum Präsidenten der Lega ernannt worden - ein unbezahlter und rein ehrenamtlicher Posten.
Dem Bericht angeheftet fand sich eine Adressenliste der einhundertzweiundsechzig Wohnungen, die zur Zeit von der Lega verwaltet wurden, mitsamt jeweiliger Wohnfläche und Zimmerzahl. Brunetti zog den Zettel, den Canale ihm gegeben hatte, näher heran und sah sich die Adressen an. Alle vier tauchten auch in der anderen Liste auf. Brunetti betrachtete sich gern als aufgeschlossen und ziemlich vorurteilslos, aber er wußte nicht recht, ob er fünf Transvestitenstrichern attestieren konnte, daß sie »höchsten moralischen Ansprüchen« genügten, auch wenn sie in Wohnungen lebten, die zu dem besonderen Zweck vermietet wurden, dazu beizutragen, daß ihre Mieter »sich in Gedanken und Wünschen dem Spirituellen zuwenden können«.
Er wandte sich von der Adressenliste wieder dem Bericht zu und las weiter. Wie er erwartet hatte, sollten alle Mieter der Lega-Wohnungen ihre Mieten, die nur symbolisch waren, auf ein Konto bei der venezianischen Niederlassung der Banca di Verona einzahlen, über die auch die Zuwendungen der Lega an die »Hilfe für Witwen und Waisen« liefen, Spenden aus dem Fonds, der sich aus den Minimalmieten für die Wohnungen zusammensetzte. Selbst Brunetti war überrascht, daß sie eine so blumige Formulierung wie »Hilfe für Witwen und Waisen« wagten, aber dann sah er, daß diese besondere Form der karitativen Arbeit erst angefangen hatte, seit Avvocato Santomauro die Lega führte. Und beim Zurückblättern stellte Brunetti fest, daß alle fünf Männer auf Canales Liste ihre Wohnungen erst bezogen hatten, nachdem Santomauro Präsident geworden war. Es hatte fast den Anschein, als ob Santomauro, nachdem er diese Position erreicht hatte, sich alles leisten zu können glaubte.
Hier unterbrach Brunetti seine Lektüre, stand auf und trat ans Fenster. Die Backsteinfassade von San Lorenzo war seit drei Monaten ohne
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