Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Brunetti, und zu Signorina Elettra: »Vielen Dank, Signorina.«
Sie sah Brunetti an und lächelte abwesend, dann blickte sie den jungen Mann an, wie Parsival den Gral, als dieser seinem Auge entschwand.
»Ja, ja«, sagte sie. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, Commissario, lassen Sie es mich bitte wissen.« Sie warf einen letzten Blick auf den Besucher, verließ das Büro und zog die Tür leise hinter sich zu.
Brunetti setzte sich wieder und richtete seine Aufmerksamkeit auf sein Gegenüber. Der junge Mann hatte kurzes, dunkles Haar, das sich über der Stirn lockte und die Ohren knapp bedeckte. Seine Nase war schmal und feingeschnitten, die braunen Augen standen weit auseinander und wirkten durch die Blässe seiner Haut noch dunkler. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dazu eine sorgsam gebundene blaue Krawatte. Er erwiderte Brunettis Blick und lächelte dann, wobei er vollkommene weiße Zähne entblößte. »Sie erkennen mich nicht, Dottore?«
»Nein, leider nicht«, antwortete Brunetti.
»Wir haben uns vergangene Woche kennengelernt, Commissario. Nur unter ganz anderen Umständen.«
Plötzlich erinnerte sich Brunetti an die leuchtend rote Perücke, die hochhackigen Schuhe. »Signor Canale. Nein, ich habe Sie nicht erkannt. Entschuldigen Sie bitte.«
Canale lächelte wieder. »Eigentlich bin ich ganz froh, daß Sie mich nicht erkannt haben. Das heißt ja, daß ich bei der Arbeit wirklich eine andere Person bin.«
Brunetti war sich nicht sicher, was das genau heißen sollte, und ging lieber nicht weiter darauf ein. Statt dessen fragte er: »Was kann ich für Sie tun, Signor Canale?«
»Wissen Sie noch, wie Sie mir dieses Bild gezeigt haben und ich gesagt habe, daß der Mann mir bekannt vorkommt?«
Brunetti nickte. Las dieser junge Mann keine Zeitung? Mascari war doch schon vor Tagen identifiziert worden.
»Als ich die Geschichte in den Zeitungen gelesen und auf dem Foto gesehen habe, wie er wirklich aussah, ist mir wieder eingefallen, woher ich ihn kannte. Die Zeichnung, die Sie mir gezeigt haben, war nicht sehr gut.«
»Nein, das war sie nicht«, gab Brunetti zu, ohne näher darauf eingehen zu wollen, inwieweit die Zerstörung von Mascaris Gesicht zu dem unvollkommenen Bild beigetragen hatte. »Und woher kannten Sie ihn?«
»Er kam vor etwa zwei Wochen zu mir.« Als er Brunettis Überraschung sah, erklärte Canale: »Nein, nicht was Sie denken, Commissario. Er war nicht an meiner Arbeit interessiert, nicht an meinem Gewerbe. Aber an mir.«
»Wie meinen Sie das?«
»Also, ich war auf der Straße. Ich stieg gerade aus einem Auto - dem Auto eines Kunden - und war noch nicht zu den Mädchen zurückgegangen, den Jungen, meine ich, da kam er auf mich zu und fragte, ob ich Roberto Canale sei und Viale Canova fünfunddreißig wohne.
Erst dachte ich, er wäre von der Polizei. Er sah irgendwie so aus.« Brunetti fand es besser, sich das nicht genauer erklären zu lassen, aber Canale tat es trotzdem. »Krawatte und Anzug, wissen Sie, und sehr darauf bedacht, nur ja keinen falschen Eindruck zu erwecken. Also, er fragte mich, und ich sagte, ja, das sei richtig. Ich dachte immer noch an Polizei. Genaugenommen hat er nie gesagt, daß er kein Polizist sei, sondern ließ mich in dem Glauben.«
»Was wollte er noch von Ihnen wissen, Signor Canale?«
»Er fragte nach meiner Wohnung.«
»Ihrer Wohnung?«
»Ja. Er wollte wissen, wer die Miete bezahlt. Ich sagte ihm, daß ich das tue, und dann wollte er wissen, wie. Ich erklärte ihm, daß ich sie auf ein Konto des Wohnungseigentümers bei der Bank einzahle, aber da sagte er, ich solle nicht lügen, er wisse genau, was da vorgehe, daraufhin mußte ich es ihm sagen.«
»Wie meinen Sie das, ›er wisse, was da vorgehe‹?«
»Na, wie ich die Miete bezahle.«
»Und wie geht das vor sich?«
»Ich treffe mich mit einem Mann in einer Bar und übergebe ihm das Geld.«
»Wieviel?«
»Anderthalb Millionen. In bar.«
»Wer ist der Mann?«
»Genau das hat er mich auch gefragt. Ich habe gesagt, es ist einfach ein Mann, den ich jeden Monat einmal treffe, in einer Bar. Er ruft in der letzten Woche des Monats bei mir an und sagt mir, wo ich ihn treffen soll, und ich gehe dann hin und gebe ihm das Geld, fertig.«
»Keine Quittung?« fragte Brunetti.
Canale lachte laut heraus. »Natürlich nicht, alles in bar.«
Und darum mußte es, wie sie beide wußten, nicht als Einnahme gebucht und folglich nicht versteuert werden. Es war eine verbreitete Methode der Steuerhinterziehung
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