Brunetti 03 - Venezianische Scharade
und wurde vermutlich bei zahlreichen Mietverhältnissen so gehandhabt.
»Aber ich zahle noch eine andere Miete«, fügte Canale hinzu.
»Ach ja?« fragte Brunetti.
»Einhundertzehntausend Lire.«
»Und an wen gehen die?«
»Ich zahle sie auf ein Bankkonto ein, aber auf der Quittung, die ich dafür bekomme, steht kein Name, so daß ich nicht weiß, wem das Konto gehört.«
»Bei welcher Bank?« wollte Brunetti wissen, obwohl er es bereits zu wissen glaubte.
»Bei der Banca di Verona. Sie ist in...«
Brunetti schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, wo sie ist.« Dann fragte er: »Wie groß ist Ihre Wohnung?«
»Vier Zimmer.«
»Anderthalb Millionen scheint mir dafür sehr viel.«
»Ja, stimmt, aber es sind noch andere Dinge mit eingeschlossen«, sagte Canale und rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Was zum Beispiel?«
»Nun, ich werde nicht belästigt.«
»Bei der Arbeit?« fragte Brunetti.
»Genau. Es ist nicht leicht für uns, eine Wohnung zu finden. Wenn die Leute erst einmal wissen, wer wir sind und was wir tun, wollen sie uns aus dem Haus haben. Mir wurde gesagt, das würde hier nicht passieren. Und es ist auch nicht passiert. Alle im Haus scheinen zu glauben, daß ich bei der Eisenbahn bin; sie denken, darum arbeite ich nachts.«
»Warum glauben sie das?«
»Keine Ahnung. Sie schienen es jedenfalls alle zu wissen, als ich dort einzog.«
»Wie lange wohnen Sie schon da?«
»Seit zwei Jahren.«
»Und die Miete haben Sie immer auf diese Weise bezahlt?«
»Ja, von Anfang an.«
»Wie sind Sie zu der Wohnung gekommen?«
»Eins von den Mädchen auf der Straße hat mir davon erzählt.«
Brunetti erlaubte sich ein angedeutetes Lächeln. »Jemand, den Sie Mädchen nennen, oder jemand, den ich Mädchen nennen würde, Signor Canale?«
»Jemand, den ich Mädchen nennen würde.«
»Wie heißt er?« fragte Brunetti.
»Der Name nützt Ihnen nichts mehr. Er ist vor einem Jahr gestorben. Überdosis.«
»Haben Ihre anderen Freunde - Kollegen - auch solche Wohnungen?«
»Einige von uns, aber wir hatten Glück.«
Brunetti dachte kurz darüber und über die möglichen Konsequenzen nach. »Wo findet denn die Verwandlung statt, Signor Canale?«
»Verwandlung?«
»Ich meine, wo...« fing Brunetti an und brach ab, weil er nicht wußte, wie er es ausdrücken sollte, »wo ziehen Sie Ihre Arbeitskleidung an? Die Leute denken doch, Sie arbeiten bei der Bahn.«
»Ach so. In einem Auto oder hinter den Büschen. Das geht nach einem Weilchen sehr schnell, dauert keine Minute.«
»Haben Sie das alles Signor Mascari erzählt?« erkundigte sich Brunetti.
»Einiges davon. Er wollte das mit der Miete wissen. Und er hat nach den Adressen von ein paar anderen gefragt.«
»Haben Sie ihm die gegeben?«
»Ja, das habe ich. Wie gesagt, ich dachte, er wäre von der Polizei, darum habe ich sie ihm gegeben.«
»Wollte er sonst noch etwas wissen?«
»Nein, nur die Adressen.« Canale hielt inne und fügte dann hinzu: »Doch, eines wollte er noch wissen, aber ich glaube, das war gewissermaßen nur als Zeichen menschlicher Anteilnahme.«
»Und was war das?«
»Er fragte, ob meine Eltern noch leben.«
»Und was haben Sie ihm geantwortet?«
»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, daß sie beide gestorben sind. Vor Jahren schon.«
»Wo?«
»In Sardinien. Da stamme ich her.«
»Und sonst wollte er nichts wissen?«
»Nein, nichts.«
»Wie hat er auf das reagiert, was Sie ihm gesagt haben?«
»Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen«, sagte Canale.
»Schien er überrascht? Oder erregt? Merkte man, daß er die Antworten so erwartet hatte?«
Canale überlegte einen Augenblick, dann meinte er:
»Zuerst schien er etwas überrascht, aber dann kamen seine Fragen, als ob er gar nicht mehr darüber nachdenken müßte. Als hätte er die ganze Liste schon fertig im Kopf.«
»Hat er noch irgend etwas gesagt?«
»Nein, er hat sich für die Informationen bei mir bedankt. Das war eigenartig, wissen Sie, denn ich dachte ja, er wäre Polizist, und normalerweise sind die nicht sonderlich...« Er brach ab, offensichtlich auf der Suche nach der richtigen Formulierung. »Sie behandeln uns nicht besonders freundlich.«
»Wann ist Ihnen eingefallen, wer er war?«
»Wie ich schon sagte, als ich sein Foto in der Zeitung sah. Ein Banker. Er war ein Banker. Glauben Sie, daß er darum so interessiert an den Mietzahlungen war?«
»Ich nehme an, das könnte der Grund gewesen sein, Signor Canale. Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, der wir
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