Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Herrschaft des Tiberius, eines Kaisers, den Tacitus offenbar ganz besonders verabscheute. Diese alten Römer hatten gemordet und betrogen, wider die Ehre gehandelt und einander Gewalt angetan, wie ähnlich sie uns doch waren, dachte Brunetti. Er las weiter und erfuhr dabei nichts, was dazu angetan war, seine Meinung zu ändern, bis die Stechmücken ihn zu plagen begannen und ihn nach drinnen trieben. Dort las er bis nach Mitternacht auf dem Sofa weiter, kein bißchen bekümmert durch das Wissen, daß dieser Katalog von Verbrechen und Schurkereien, begangen vor fast zweitausend Jahren, dazu diente, ihn von denen abzulenken, die um ihn herum begangen wurden. Sein Schlaf war tief und traumlos, und er wachte erfrischt auf, als ob er glaubte, daß Tacitus' rigoroser, kompromißloser Moralismus ihm über den Tag helfen würde.
Als er an dem Morgen in die Questura kam, stellte er überrascht fest, daß Patta sich tags zuvor, bevor er nach Mailand gefahren war, noch die Zeit genommen hatte, die gerichtliche Verfügung zu beantragen, die ihnen die Unterlagen der Lega della Moralità und der Banca di Verona zugänglich machte. Und nicht nur das, die Verfügung war auch beiden Institutionen am Vormittag zugestellt worden, und die zuständigen Leute hatten versprochen, der Aufforderung nachzukommen. Beide Institutionen bestanden darauf, daß es eine gewisse Zeit dauern werde, die nötigen Unterlagen vorzubereiten, und beide hatten sich in bezug auf die tatsächliche Dauer nicht sehr präzise ausgedrückt.
Um elf war von Patta immer noch nichts zu sehen und zu hören. Die meisten Mitarbeiter der Questura hatten an dem Morgen eine Zeitung gekauft, aber in keiner wurde Burrascas Festnahme erwähnt. Das war weder für Brunetti noch für die anderen überraschend, aber es beflügelte sehr die Neugier, ganz zu schweigen von den Spekulationen darüber, was beim gestrigen Ausflug des Vice-Questore nach Mailand wohl herausgekommen war. Brunetti, der darüber erhaben war, begnügte sich damit, bei der Guardia di Finanza anzurufen und nachzufragen, ob man seiner Bitte entsprochen hatte, ihm ein paar Leute zur Verfügung zu stellen, die sich mit den Finanzunterlagen sowohl der Bank als auch der Lega befaßten. Sehr zu seiner Überraschung erfuhr er, daß der zuständige Richter, Luca Benedetti, bereits Anweisung gegeben hatte, die Unterlagen, sobald sie zur Verfügung standen, von der Finanza prüfen zu lassen.
Als Vianello kurz vor der Mittagspause in sein Büro kam, war Brunetti sicher, daß er ihm sagen wollte, die Unterlagen seien nicht gekommen, oder eher noch, die Bank oder die Lega habe ganz plötzlich irgendeine bürokratische Hürde entdeckt, durch die sich das Ganze hinauszögerte, womöglich bis in alle Ewigkeit.
»Buon giorno, commissario«, sagte Vianello beim Hereinkommen.
Brunetti sah von seinen Akten auf und fragte: »Was gibt es. Sergente?«
»Ich habe jemanden hier, der mit Ihnen sprechen möchte.«
»Wen?« fragte Brunetti und legte seinen Stift auf die Papiere, die er vor sich hatte.
»Professore Luigi Ratti und seine Frau«, antwortete Vianello ohne weitere Erklärung, bis auf ein kurz angebundenes: »Aus Mailand.«
»Und wer sind dieser Professore und seine Frau, wenn ich fragen darf?«
»Sie haben eine der Wohnungen, die von der Lega verwaltet werden, seit gut zwei Jahren.«
»Weiter, weiter, Vianello«, forderte Brunetti ihn interessiert auf.
»Die Adresse des Professore stand in dem Teil der Liste, den ich hatte, darum bin ich heute vormittag zu ihm gegangen. Als ich fragte, wie er zu der Wohnung gekommen sei, erklärte er, die Beschlüsse der Lega seien vertraulich. Ich wollte wissen, wie er seine Miete bezahlt, und er sagte, daß er monatlich zweihundertzwanzigtausend Lire aufs Konto der Lega bei der Banca di Verona überweist. Als ich fragte, ob ich seine Quittungen sehen könne, meinte er, die würde er nie aufheben.«
»Tatsächlich?« fragte Brunetti noch interessierter. Da man nie wissen konnte, wann irgendeine Behörde befand, daß eine Rechnung nicht bezahlt, eine Steuer nicht eingezogen, ein Dokument nicht ausgestellt sei, warf niemand in Italien jemals ein amtliches Schriftstück weg, am wenigsten einen Beleg dafür, daß eine Zahlung geleistet worden war. Brunetti und Paola hatten sogar zwei Schubladen voller Stromrechnungen, die ein Jahrzehnt zurückgingen, und auf dem Dachboden verstaut noch mindestens drei Kartons mit den verschiedensten Dokumenten. Wenn jemand behauptete, eine
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