Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Frau den Kopf.
»Sagen Sie, Professore, wieviel Zeit verbringen Sie im Jahr in der Wohnung?«
Er überlegte kurz. »Wir kommen zum Carnevale.«
Seine Frau vervollständigte die Angabe mit einem entschiedenen: »Natürlich.«
Ihr Mann fuhr fort: »Dann sind wir noch im September hier, und manchmal zu Weihnachten.«
Hier ergänzte seine Frau: »Und gelegentlich über ein Wochenende, natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte Brunetti. »Und das Mädchen?«
»Das bringen wir aus Mailand mit.«
»Natürlich.« Brunetti nickte und malte einen weiteren Schnörkel auf das Papier vor sich.
»Darf ich fragen, ob Ihnen der Zweck der Lega bekannt ist, Professore? Ich meine Ziel und Zweck?«
»Ich weiß, daß sie sich für eine höhere Moral einsetzt«, erklärte der Professore in einem Ton, der sagen sollte, daß es davon nie genug geben konnte.
»Ah ja«, sagte Brunetti und fragte dann: »Aber darüber hinaus, zu welchem Zweck sie die Wohnungen vermietet?«
Diesmal war es Ratti, der seiner Frau einen Blick zuwarf. »Ich glaube, sie wollen denjenigen Wohnungen geben, die sie für wert erachten.«
Brunetti fuhr fort: »Und mit diesem Wissen, Professore, kam es Ihnen da nicht irgendwann seltsam vor, daß die Lega als venezianische Einrichtung eine von ihr verwaltete Wohnung an jemanden aus Mailand vergibt, jemanden, der sie darüber hinaus auch noch höchstens ein paar Monate im Jahr nutzt?« Als Ratti nichts sagte, drängte Brunetti; »Sie wissen doch sicher, wie schwierig es ist, in dieser Stadt eine Wohnung zu finden.«
Signora Ratti geruhte, die Frage zu beantworten. »Wir haben wohl angenommen, daß eine solche Wohnung an Leute vermietet werden sollte, die sie zu schätzen und zu erhalten wissen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine große und erstrebenswerte Wohnung besser erhalten können als beispielsweise die Familie eines Schreiners aus Cannaregio?«
»Ich denke, das versteht sich von selbst«, antwortete sie.
»Und wer bezahlt Reparaturarbeiten an Ihrer Wohnung, wenn ich fragen darf?« wollte Brunetti wissen.
Signora Ratti lächelte und antwortete: »Bisher mußte nichts repariert werden.«
»Aber Sie haben doch sicher eine Klausel in Ihrem Vertrag - falls Sie einen Vertrag bekommen haben -, aus der hervorgeht, wer für Reparaturen verantwortlich ist.«
»Der Vermieter«, sagte Ratti.
»Die Lega?« fragte Brunetti.
»Ja.«
»Die Instandhaltung ist also nicht Sache der Mieter?«
»Nein.«
»Und Sie sind etwa«, begann Brunetti, bevor er auf seine Liste schaute, als hätte er sich die Zahl dort notiert, »zwei Monate im Jahr hier?« Als Ratti schwieg, fragte Brunetti: »Stimmt das, Professore?«
Seine Frage wurde mit einem mißmutigen »Ja« beantwortet.
Mit einer Bewegung, die bewußt den Priester imitierte, der auf seinem Gymnasium Religion unterrichtet hatte, faltete Brunetti die Hände geziert vor dem Körper, unmittelbar am unteren Rand des Blattes, das auf seinem Schreibtisch lag, und sagte: »Ich glaube, es ist langsam an der Zeit, daß Sie eine Entscheidung treffen, Professore.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Dann kann ich es Ihnen vielleicht erklären. Die eine Möglichkeit wäre, daß Sie mir dieses Gespräch und Ihre Antworten auf meine Fragen noch einmal auf Band sprechen, oder daß wir eine Sekretärin kommen lassen, die es mitstenographiert. In jedem Fall würde ich Sie bitten, Ihre Aussage zu unterschreiben, Sie beide, da Sie mir dasselbe sagen.« Brunetti hielt lange genug inne, um das wirken zu lassen. »Oder Sie könnten, und ich halte das für die weitaus klügere Wahl, anfangen, mir die Wahrheit zu sagen.« Beide taten überrascht, und Signora Ratti ging sogar so weit, Empörung zu mimen.
»In jedem Fall«, fügte Brunetti ruhig hinzu, »ist das mindeste, was Ihnen passieren wird, daß Sie die Wohnung verlieren, obwohl das einige Zeit dauern könnte. Aber Sie werden sie verlieren; das ist wenig, aber es ist sicher.« Er fand es interessant, daß keiner von beiden wissen wollte, wovon er eigentlich sprach.
»Es steht fest, daß viele dieser Wohnungen illegal vermietet wurden und daß jemand, der mit der Lega zu tun hat, seit Jahren illegal die Mieten einzieht.« Als Professore Ratti protestieren wollte, hob Brunetti kurz die Hand und verschränkte dann rasch wieder die Finger. »Wenn es nur um Betrug ginge, wären Sie vielleicht besser beraten, wenn Sie weiterhin behaupteten, von allem nichts zu wissen. Aber dummerweise geht es um weit mehr als Betrug.« Hier
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