Brunetti 05 - Acqua alta
sich zurück und verschränkte die Arme. Sie hatte den Eindruck, daß er nötigenfalls den ganzen Tag so dazusitzen gedachte.
Er machte keine weiteren Anstalten, sich mit ihr zu unterhalten, saß nur still da und wartete auf irgend etwas. Sie setzte sich neben ihn, erstaunt, wie wenig sie das Bedürfnis verspürte, weiter mit ihm Konversation zu machen oder sich an Benimmregeln zu halten. Sie saß einfach da. Zehn Minuten vergingen. Langsam sank ihr Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne, und sie döste ein, dann schreckte sie wieder hoch, als ihr Kopf nach vorn fiel. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Halb zwölf. Er war seit einer Stunde hier.
»War sie inzwischen wach?« fragte sie ihn.
»Ja, aber nur ein paar Minuten. Gesagt hat sie nichts.«
»Aber sie hat Sie gesehen?«
»Ja.«
»Und erkannt?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut.«
Nach einer langen Pause fragte er: »Signora, würden Sie gern für ein Weilchen nach Hause gehen? Vielleicht etwas essen? Ich bleibe hier. Sie hat mich gesehen, wird also keine Angst bekommen, wenn sie aufwacht und ich hier bin.«
Vor Stunden hatte Flavia nagenden Hunger verspürt; jetzt war er verschwunden. Aber die Mischung aus Müdigkeit und Ungewaschensein klebte an ihr, und der Gedanke an eine Dusche, saubere Handtücher, frischgewaschene Haare, frische Kleider ließ sie fast japsen vor Sehnsucht. Brett schlief fest, und in wessen Obhut war sie sicherer als in der eines Polizisten?
»Ja«, sagte sie und stand auf. »Ich bleibe nicht lange. Wenn sie aufwacht, sagen Sie ihr bitte, wo ich hingegangen bin.«
»Natürlich«, sagte er und erhob sich, während Flavia ihre Tasche nahm und hinter der Tür ihren Mantel holte. Auf der Schwelle drehte sie sich zum Abschied um und bedachte Brunetti mit dem ersten richtigen Lächeln, das sie ihm bisher geschenkt hatte. Dann verließ sie das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
Brunetti hatte zuerst kaum einen Blick auf den Bericht von dem Überfall geworfen, den Signorina Elettra ihm heute morgen in sein Büro gebracht hatte, zumal nachdem er gesehen hatte, daß die uniformierten Kollegen sich schon damit befaßten. Als sie ihn die Mappe beiseite legen sah, hatte Signorina Elettra gesagt: »Ich dachte, Sie würden sich das vielleicht gern etwas genauer ansehen, Dottore.« Damit war sie in ihr eigenes Büro hinuntergegangen.
Die Adresse hatte ihm nichts gesagt, aber in einer Stadt, die nur sechs verschiedene Postbezirke mit fortlaufenden Hausnummern kennt, waren Anschriften ziemlich bedeutungslos. Der Name hatte ihn mitten aus der Seite angesprungen: Brett Lynch. Er hatte keine Ahnung, daß sie aus China zurück war, hatte sie in den Jahren, die seit ihrem letzten Zusammentreffen verstrichen waren, ganz vergessen. Die Erinnerung an dieses Zusammentreffen und alles, was damit zusammenhing, war es dann, was ihn ins Krankenhaus geführt hatte.
Die schöne junge Frau, die er vor einigen Jahren kennengelernt hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen, hätte leicht jede beliebige zusammengeschlagene und mißhandelte Frau sein können, die er im Laufe seiner Arbeit bei der Polizei gesehen hatte. Während er sie betrachtete, listete er im Kopf die Männer auf, von denen er wußte, daß sie solcher Art von Gewalt gegen eine Frau fähig waren - nicht gegen eine, die sie kannten, sondern gegen eine, auf die sie beim Begehen eines Verbrechens trafen. Es wurde eine sehr kurze Liste: Einer saß im Gefängnis von Triest, der andere befand sich dem Vernehmen nach auf Sizilien. Die Liste derer, die einer ihnen bekannten Frau so etwas antun würden, war sehr viel länger, und einige davon hielten sich in Venedig auf, aber er bezweifelte, daß einer von ihnen Brett Lynch kannte oder einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun, falls er sie doch kannte.
Raub? Signora Petrelli hatte den beiden Polizisten, die sie vernommen hatten, gesagt, daß die beiden Männer, die in Bretts Wohnung gekommen waren, offenbar nicht gewußt hatten, daß sich noch jemand dort aufhielt, folglich ergab das Zusammenschlagen keinen Sinn. Wenn sie die Wohnung hätten ausrauben wollen, hätten sie Brett fesseln oder in ein Zimmer sperren und sich dann in aller Ruhe nehmen können, was sie wollten. Keiner der Diebe, die er in Venedig kannte, würde so etwas tun. Wenn also nicht Raub, was dann?
Da Brett die Augen geschlossen hielt, überraschte ihn ihre Stimme, als sie plötzlich sagte: »Mi dai da
bere?«
Erschrocken beugte er sich vor.
»Wasser«, sagte sie.
Auf
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