Brunetti 05 - Acqua alta
dem Tischchen neben ihrem Bett standen eine Plastikkaraffe und ein Becher mit Strohhalm. Er goß Wasser in den Becher und hielt ihr den Strohhalm an die Lippen, bis sie alles ausgetrunken hatte. Hinter ihren Lippen sah er das Geflecht der Drähte, die ihre Kiefer zusammenhielten. Das also war der Grund, warum sie so undeutlich sprach, dies und die Medikamente.
Ihr rechtes Auge öffnete sich, ein intensiveres Blau als die Haut drum herum. »Danke, Commissario.« Das Auge blinzelte und blieb offen. »Komischer Ort für ein Wiedersehen.« Wegen der Drähte klang ihre Stimme wie aus einem schlecht eingestellten Radio.
»Ja«, stimmte er zu und mußte über die Absurdität ihrer Bemerkung und seine banale Förmlichkeit lächeln.
»Flavia?« fragte sie.
»Sie ist mal kurz nach Hause gegangen, kommt aber bald wieder.«
Brett bewegte den Kopf auf dem Kissen, und er hörte sie scharf die Luft einziehen. Nach einer kleinen Weile fragte sie: »Warum sind Sie hier?«
»Ich habe Ihren Namen in dem Bericht von dem Überfall gelesen, da wollte ich wissen, wie es Ihnen geht.«
Ihre Lippen bewegten sich ganz leicht, vielleicht ein von Schmerzen abgeschnittenes Lächeln. »Nicht sehr gut.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich fragte er, obwohl er es eigentlich nicht hatte tun wollen: »Erinnern Sie sich, was passiert ist?«
Sie gab einen bejahenden Laut von sich und begann dann zu erklären: »Sie hatten Unterlagen von Dottor Semenzato aus dem Museum.« Brunetti nickte, er kannte den Namen und den Mann. »Ich habe sie eingelassen. Und dann ...«, ihre Stimme verebbte, bevor sie schließlich hinzufügte: »... dann das.«
»Haben die Männer etwas gesagt?«
Ihr Auge schloß sich, und sie lag eine ganze Weile still. Er wußte nicht, ob sie sich zu erinnern versuchte oder nur überlegte, wieviel sie ihm sagen sollte. Es dauerte so lange, daß er schon glaubte, sie wäre wieder eingeschlafen. Doch schließlich murmelte sie: »Haben gesagt, ich soll nicht zu dem Treffen gehen.«
»Zu was für einem Treffen?«
»Mit Semenzato«.
Also kein Raubüberfall. Er sagte nichts. Es war nicht der Augenblick, in sie zu dringen.
Ihre Worte wurden langsamer und undeutlicher. »Heute vormittag, im Museum. Keramiken in der China-Ausstellung.« Eine lange Pause folgte, in der sie sich bemühte, das eine Auge offenzuhalten. »Sie wußten über Flavia und mich Bescheid.« Danach wurde ihr Atem flacher, und er merkte, daß sie wieder eingeschlafen war.
Er saß da, sah sie an und versuchte sich einen Reim auf ihre Worte zu machen. Semenzato war Direktor des Museums im Dogenpalast. Bis zur Wiedereröffnung des restaurierten Palazzo Grassi war es das berühmteste Museum in Venedig gewesen, und Semenzato der wichtigste Museumsdirektor. Vielleicht war er das immer noch. Schließlich hatte der Dogenpalast die Tizian-Ausstellung gezeigt, und alles, was der Palazzo Grassi in den letzten Jahren präsentiert hatte, waren Andy Warhol und die Kelten, beides Produkte des »neuen« Venedig und darum eher Medienspektakel als ernstzunehmendes Kunstereignis.
Semenzato war es gewesen, wie Brunetti sich erinnerte, der vor etwa fünf Jahren die Ausstellung chinesischer Kunst mitorganisiert hatte, und Brett Lynch war dabei als Mittlerin zwischen der Stadtverwaltung und der chinesischen Regierung aufgetreten. Die Ausstellung hatte er gesehen, lange bevor er Brett kennenlernte, und er erinnerte sich noch gut an einige der Exponate: diese lebensgroßen Terrakottastatuen von Soldaten, ein bronzener Kampfwagen und eine komplette Zierrüstung aus Tausenden von ineinandergreifenden Jadestückchen. Es waren auch Gemälde dabeigewesen, die er aber langweilig gefunden hatte: Trauerweiden, bärtige Männer und immer dieselben zierlichen alten Brücken. Die Statue des Soldaten allerdings hatte ihn überwältigt, und er wußte noch, wie er reglos davor gestanden und sich das Gesicht angesehen hatte, aus dem Treue, Mut und Ehre sprachen, Zeichen eines gemeinsamen Menschseins, das zwei Jahrtausende und die halbe Welt umspannte.
Brunetti hatte Semenzato bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen und ihn intelligent und charmant gefunden, ein Mann mit jener Patina anmutiger Manieren, wie Leute in öffentlichen Ämtern sie mit den Jahren annehmen. Semenzato war Sproß einer alten venezianischen Familie, einer von mehreren Brüdern, die alle mit Antiquitäten, Kunst oder dem Handel mit diesen Dingen zu tun hatten.
Da Brett an der Ausstellung mitgearbeitet
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