Brunetti 05 - Acqua alta
spritzen. Sie hing zwischen ihnen und konnte nur denken, daß sie keinen Laut von sich geben durfte, wünschte nur, sie ließen sie endlich fallen, damit sie sich zusammenkrümmen und dem Schmerz entfliehen konnte, der ihren ganzen Körper beherrschte. Und während dies alles geschah, erfüllte Flavia Petrellis zweifache Stimme den Raum mit jubelnder Freude, schwang sich über den Chor und den Tenor, ihren Geliebten, empor.
Mit der größten Anstrengung, die sie je in ihrem Leben für etwas aufgebracht hatte, hob Brett den Kopf und sah in die Augen des Großen, der jetzt unmittelbar vor ihr stand. Er lächelte sie an, ein so vertrauliches Lächeln, als hätte sie das Gesicht eines Geliebten vor sich. Langsam streckte er die Hand aus, umschloß ihre linke Brust, drückte sie sanft und flüsterte: »Willst du noch mehr, cara? Mit einem Mann ist es schöner.«
Ihre Reaktion war ganz unwillkürlich. Ihre Faust traf ihn ins Gesicht und rutschte ab, ohne ihm etwas anzuhaben, aber die plötzliche Bewegung riß sie von der Hand des anderen Mannes los. Rückwärts sank sie gegen die Wand, deren Festigkeit sie an ihrem Rücken fühlte, als gehörte dieser gar nicht zu ihr.
Sie spürte, wie sie nach unten rutschte, merkte, wie ihr Pullover von der rauhen Backsteinmauer hochgeschoben wurde. Langsam, ganz langsam, wie in einer extremen Zeitlupe, sank sie an der Wand hinunter, und die grobe Fläche scheuerte an ihrer Haut, während die Schwerkraft an ihrem Körper zog.
Dann geriet alles durcheinander. Sie hörte Flavias Stimme die Cabaletta singen, aber dann hörte sie Flavias andere Stimme, die nicht mehr sang, sondern wütend schrie: »Wer sind Sie? Was machen Sie da?«
»Hör nicht auf zu singen, Flavia«, wollte sie sagen, aber sie wußte nicht mehr, wie man sprach. Sie fiel zu Boden, das Gesicht zum Wohnzimmer, wo sie vor dem Licht, das aus dem anderen Raum einfiel, die Umrisse der wirklichen Flavia sah, hörte die herrliche Musik, die mit ihr hereinbrandete, und sah das große Küchenmesser in Flavias Hand.
»Nein, Flavia«, flüsterte sie, aber keiner hörte sie.
Mit einem Satz war Flavia bei den beiden Männern, die ebenso überrascht waren wie sie selbst und keine Zeit zum Reagieren hatten. Das Messer ratschte über den Unterarm des Kleineren. Er schrie vor Schmerz auf, zog den Arm an sich und legte die freie Hand über die Wunde. Blut quoll durch den Stoff seines Jacketts.
Erneute Zeitlupe. Dann sprang der Große zur noch immer offenstehenden Wohnungstür. Flavia zog das Messer an ihre Hüfte und machte zwei Schritte auf ihn zu. Der Verwundete stieß mit dem linken Fuß nach ihr und traf sie seitlich am Knie. Sie fiel hin, aber nur auf die Knie, das Messer noch immer stoßbereit.
Wie auch immer die beiden Männer sich verständigten, es geschah stumm, aber sie stürmten gleichzeitig zur Tür. Dort hielt der Große gerade lange genug inne, um sich nach dem Umschlag zu bücken, doch im Knien hieb Flavia mit dem Messer nach seiner Hand, und er fuhr zurück und ließ den Umschlag auf dem Boden liegen. Flavia sprang hoch und rannte ihnen nach, hielt aber nach ein paar Stufen an und kam in die Wohnung zurück, wobei sie mit dem Fuß die Tür hinter sich zustieß.
Sie kniete sich neben die andere Frau, die auf dem Rücken lag. »Brett, Brett«, rief sie, während sie auf die Freundin hinunterblickte. Der untere Teil von Bretts Gesicht war voller Blut, das ihr aus Nase und Lippe quoll und aus einer Platzwunde an der linken Stirnseite strömte. Sie hatte ein Knie unter sich gezogen, ihr Pullover war bis ans Kinn hochgerutscht und entblößte ihre Brüste. »Brett«, sagte Flavia noch einmal, und einen Augenblick lang hielt sie die völlig reglose Frau für tot. Sie schob den Gedanken gleich wieder von sich und legte eine Hand an Bretts Hals.
Langsam, wie die Morgendämmerung an einem dunklen Wintertag, öffnete sich zuerst ein Auge, dann das andere, doch da es allmählich zuschwoll, ging es nur zur Hälfte auf.
»Stai bene?« fragte Flavia.
Als einzige Antwort kam nur ein tiefes Ächzen. Aber es war immerhin eine Antwort.
»Ich hole Hilfe. Nur keine Sorge, cara. Die sind ganz schnell hier.«
Sie rannte ins andere Zimmer, zum Telefon. Eine Sekunde lang begriff sie nicht, was sie daran hinderte, den Hörer abzunehmen, dann sah sie das blutige Messer, die weißen Knöchel ihrer Hand, die den Griff umklammerte. Sie ließ es fallen und griff nach dem Hörer. Mit steifen Fingern wählte sie 113. Nach zehnmaligem Klingeln
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