Brunetti 05 - Acqua alta
meldete sich eine Frauenstimme und fragte, was sie wolle.
»Hier ist ein Notfall. Ich brauche eine Ambulanz. In Cannaregio.«
Gelangweilt erkundigte sich die Stimme nach der genauen Anschrift.
»Cannaregio 6134.«
»Tut mir leid, Signora. Es ist Sonntag, und wir haben nur eine zur Verfügung. Ich muß sie auf die Warteliste setzen.«
Flavias Stimme wurde lauter. »Hier ist eine Frau verletzt. Jemand hat versucht, sie umzubringen. Sie muß ins Krankenhaus.«
Die Stimme am anderen Ende nahm einen Ton müder Geduld an. »Ich habe es Ihnen doch schon erklärt, Signora. Wir haben nur ein Sanitäterteam, und das muß vorher noch zu zwei anderen Notfällen. Sobald es frei ist, schicken wir es zu Ihnen.« Als sie keine Antwort von Flavia bekam, fragte die Stimme: »Signora, sind Sie noch dran? Wenn Sie mir noch einmal die Adresse geben, setze ich Sie auf die Liste. Signora? Signora?« Auf Flavias Schweigen hin legte die Frau am anderen Ende auf, und Flavia stand mit dem Hörer in der Hand da und wünschte, es wäre noch das Messer.
Mit zitternden Fingern legte Flavia den Hörer auf und ging zurück in die Diele. Brett lag noch dort, wo sie gelegen hatte, aber irgendwie war es ihr gelungen, sich auf die Seite zu drehen, und nun lag sie reglos da, einen Arm über der Brust, und stöhnte.
Flavia kniete sich neben sie. »Brett, ich muß einen Arzt holen.«
Flavia hörte ein ersticktes Geräusch, und Bretts Hand näherte sich langsam der ihren. Die Finger berührten kaum Flavias Arm, dann sank die Hand auf den Boden. »Kalt«, war das einzige, was sie sagte.
Flavia stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie riß das Bettzeug herunter, schleifte es in die Diele und deckte die reglose Gestalt auf dem Boden zu. Dann öffnete sie die Wohnungstür, ohne sich vorher durch den Spion zu vergewissern, ob die beiden Männer womöglich zurückgekommen waren. Sie ließ die Tür hinter sich offen, rannte zwei Treppen tiefer und hämmerte gegen die Tür der Wohnung unter der ihren.
Kurz darauf öffnete ihr ein großer Mittvierziger mit beginnender Glatze, der in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Buch hielt. »Luca«, keuchte Flavia, die sich beherrschen mußte, um nicht loszuschreien, weil sich das alles so hinzog und niemand ihrer Geliebten zu Hilfe kam. »Brett ist verletzt. Sie braucht einen Arzt.« Plötzlich versagte ihr die Stimme, und sie schluchzte. »Bitte, Luca, bitte, holen Sie einen Arzt.« Sie griff nach seinem Arm, unfähig weiterzusprechen.
Ohne ein Wort ging er in seine Wohnung zurück und schnappte sich von einem Tischchen neben der Tür sein Schlüsselbund. Das Buch ließ er auf den Boden fallen, zog die Tür hinter sich zu und verschwand über die Treppe nach unten, ehe Flavia noch etwas sagen konnte.
Flavia eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, in die Wohnung zurück. Sie blickte auf Brett hinunter und sah eine kleine Blutlache, die sich unter ihrem Gesicht langsam ausbreitete; eine Haarsträhne schwamm darauf. Vorjahren hatte sie einmal gelesen oder gehört, daß man Menschen im Schockzustand wach halten solle, daß es gefährlich sei, wenn sie einschliefen. Also kniete sie sich erneut neben die Freundin und rief ihren Namen. Das eine Auge war inzwischen ganz zugeschwollen, aber beim Klang ihres Namens öffnete die Amerikanerin das andere einen winzigen Spalt und sah Flavia an, ohne ein Erkennen zu zeigen.
»Luca ist unterwegs. Der Arzt kommt jeden Moment.«
Langsam schien Bretts Blick zu verschwimmen, dann richtete er sich wieder fest auf Flavia. Sie bückte sich tiefer, strich Brett die Haare aus dem Gesicht und merkte, wie ihr dabei Blut über die Finger lief. »Es wird alles gut. Die müssen gleich hier sein, und dann wirst du versorgt. Alles wird wieder gut, Liebes. Mach dir keine Sorgen.«
Das Auge ging zu, öffnete sich wieder, blickte in die Ferne, dann wieder in die Nähe. »Tut so weh«, flüsterte sie.
»Ist ja gut, Brett. Es wird alles wieder gut.«
»Tut weh.«
Flavia kniete neben ihrer Freundin, blickte in das eine Auge, versuchte es mit ihrer Willenskraft offen- und klar zu halten und murmelte dabei Dinge, die gesagt zu haben sie sich nie erinnern würde. Irgendwann fing sie an zu weinen, aber das wurde ihr nicht bewußt.
Sie sah Bretts Hand, halb unter den Decken versteckt, griff danach und hielt sie sanft in der ihren, so sanft wie die Daunen der Decke auf dem Körper ihrer Geliebten. »Es wird alles wieder gut, Brett.«
Dann hörte sie Schritte und laute Stimmen aus dem
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