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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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zwei Schmerztabletten. Wie er sich so unter den anderen in der Cafeteria mit ihren Verbänden und Schienen umsah, fühlte er sich zum erstenmal an diesem Tag zu Hause.
    Als er sich wieder auf den Weg zur Psychiatriestation machte, fühlte er sich besser, wenn auch nicht gut. Er überquerte den offenen Hof, ging an der Radiologie vorbei und stieß die Glastür zur Psychiatriestation auf. Genau in diesem Moment sah er vom anderen Ende des Korridors eine weißgewandete Gestalt ihm entgegenkommen, und wieder fragte sich Brunetti, ob er Urlaub von seinen fünf Sinnen genommen habe oder von einer Art psychologischem Erdbeben heimgesucht werde. Aber nein, es war nichts mehr und nichts minder als Padre Pio, der ihm da entgegenkam, den hochgewachsenen Körper von einem dunklen wollenen Umhang umwallt, der am Kragen geschlossen war, und zwar, wie Brunetti mit fast halluzinatorischer Klarheit erkannte, mit einer aus einem alten Mariatheresientaler gefertigten Spange.
    Es war schwer zu beurteilen, wer von ihnen beiden erstaunter war, jedenfalls fing sich aber der Pater als erster wieder und sagte: »Guten Morgen, Commissario. Ist es vorschnell von mir, wenn ich vermute, daß wir beide hier sind, um dieselbe Person zu besuchen?«
    Brunetti brauchte eine kleine Weile, bis er sprechen konnte, dann sagte er nur den Namen: »Signorina Lerini?«
    »Ja.«
    »Die können Sie nicht besuchen«, sagte Brunetti, ohne seine Feindseligkeit länger zu unterdrücken.
    Padre Pios Gesicht erblühte zu genau demselben liebenswürdigen Lächeln, mit dem er Brunetti bei ihrem ersten Zusammentreffen im Kloster des Ordens vom Heiligen Sakrament begrüßt hatte. »Aber Commissario, Sie werden doch gewiß nicht das Recht haben, einem kranken Menschen, der des geistlichen Zuspruchs bedarf, den Besuch seines Beichtvaters zu verweigern?«
    Beichtvater! Natürlich. Das hätte Brunetti sich denken können. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr der Pater fort: »Jedenfalls kommen Sie mit Ihrem Verbot zu spät, Commissario. Ich habe schon mit ihr gesprochen und ihr die Beichte abgenommen.«
    »Und ihr geistlichen Trost gespendet?« fragte Brunetti.
    »Sie sagen es«, antwortete Padre Pio mit einem Lächeln, das Liebenswürdigkeit nie gekannt hatte.
    Brunetti merkte, wie Übelkeit in ihm hochstieg, aber die hatte nichts mit dem soeben getrunkenen Aprikosennektar zu tun. Wut und Ekel ergriffen von ihm Besitz wie ein plötzlicher Krampf, und er konnte beide sowenig unterdrücken wie die Tabletten den Schmerz in seinem Arm. Unter Mißachtung der Erfahrungen einer ganzen Generation packte er den Pater an seinem Gewand und fühlte mit Freude, wie sich das feine Tuch in seiner Hand zusammenknüllte. Er riß den Pater unsanft zu sich heran, so daß dieser, auf dem falschen Fuß erwischt, ihm entgegentaumelte, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. »Wir wissen über Sie Bescheid«, zischte Brunetti.
    Der Pater riß zornig eine Hand hoch und befreite sich aus Brunettis Griff. Er wich vor ihm zurück, machte kehrt und wollte zur Tür. Aber dann hielt er ebenso plötzlich an und kam wieder auf Brunetti zu, den Kopf hin und her wiegend wie eine Schlange. »Und wir wissen über Sie Bescheid«, zischte er zurück, dann war er verschwunden. Brunetti überlief es kalt.

22
    D raußen auf dem Campo SS. Giovanni e Paolo blieb Brunetti zunächst noch ein paar Minuten vor dem Krankenhauseingang stehen und konnte sich nicht entscheiden, ob er sich überwinden und in die Questura gehen oder lieber nach Hause zurückkehren und ein bißchen schlafen sollte. Er betrachtete die Gerüste an der Vorderseite der Basilika und sah, daß die Schatten schon halb die Fassade hinaufgekrochen waren. Er sah auf die Uhr und konnte es nicht fassen, daß der Nachmittag schon halb vorbei war. Er wußte nicht, wo ihm diese Stunden abhanden gekommen waren:
    Vielleicht war er in der Cafeteria eingeschlafen, mit dem Kopf an der Wand hinter seiner Stuhllehne. So oder so, die Stunden waren dahin, auf ähnliche Weise entflogen wie Maria Testas Lebensjahre.
    Nachdem er zu dem Schluß gekommen war, daß es einfacher wäre, in die Questura zu gehen, schon weil das näher war, überquerte er den Campo und schlug diese Richtung ein. Von Durst und wiederkehrenden Schmerzen geplagt, kehrte er unterwegs in einer Bar ein, um ein Glas Mineralwasser zu trinken und noch eine Schmerztablette zu nehmen. In der Questura angekommen, fand er den Vorraum sonderbar leer, und erst als ihm

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