Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Commissario.«
»Was dann?«
»Ich hatte noch Urlaub. Da habe ich ein paar Tage davon genommen. Ich dachte - äh -, ich könnte Vianello hier ein bißchen zur Hand gehen. Bei dem Regen lohnt es sich sowieso nicht, wegzufahren.« Pucetti betrachtete angelegentlich einen Fleck an der Wand links hinter Brunettis Kopf.
»Also, wenn Sie Vianello anrufen, sagen Sie ihm, er soll das irgendwie abändern, so daß Sie heute Dienst haben. Sparen Sie sich Ihren Urlaub für den Sommer auf.«
»Danke, Commissario. Wäre das dann alles?« »Ich denke, ja.«
»Dann auf Wiedersehen, Commissario«, sagte der junge Mann und wandte sich in Richtung Treppe.
»Und danke, Pucetti«, rief Brunetti ihm nach. Zur Antwort hob Pucetti nur eine Hand, blickte aber nicht zurück oder quittierte Brunettis Dank auf irgendeine andere Weise.
Brunetti klopfte an die Tür.
»Avanti«, rief eine Stimme von drinnen.
Er drückte die Tür auf und ging hinein. Mit einem gewissen Erschrecken sah er eine Nonne im nun schon wohlvertrauten Habit des Ordens vom Heiligen Sakrament neben dem Bett stehen und Maria Testa das Gesicht abwischen. Sie warf einen Blick zu Brunetti herüber, sagte aber nichts. Auf dem Tischchen neben dem Bett stand ein Tablett, mitten darauf eine halb leergegessene Schale mit Suppe, wie es aussah. Das Blut - sein Blut - war nicht mehr auf dem Boden.
»Guten Morgen«, sagte Brunetti, ohne ganz verbergen zu können, wie nervös ihn der Anblick des Habits machte.
Die Nonne nickte, sagte aber noch immer nichts. Sie trat einen kleinen Schritt vor, bis sie - vielleicht unwillentlich - zwischen ihm und dem Bett stand.
Brunetti trat daraufhin so weit nach links, daß Maria ihn sehen konnte, worauf sie die Augen weit aufriß und sich mit nachdenklich gerunzelter Stirn offenbar an ihn zu erinnern versuchte. »Signor Brunetti?« fragte sie schließlich.
»Ja.«
»Was machen Sie denn hier? Ist etwas mit Ihrer Mutter?«
»Nein, nein, mit meiner Mutter ist nichts. Ich komme Sie besuchen.«
»Was ist denn mit Ihrem Arm?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Aber woher wissen Sie, daß ich hier bin?« Als sie die Panik hörte, die sich in ihre Stimme schlich, hielt sie inne und schloß die Augen. Dann öffnete sie diese langsam wieder und sagte mit einer Stimme, die regelrecht zitterte von der Anstrengung, ruhig zu sprechen: »Ich begreife gar nichts.«
Brunetti näherte sich dem Bett. Die Nonne schoß ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf, was Brunetti, falls es eine Warnung sein sollte, nicht beachtete.
»Was begreifen Sie nicht?« fragte er.
»Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Die sagen, ich wäre auf dem Fahrrad von einem Auto angefahren worden, aber ich habe doch gar kein Fahrrad. Im ganzen Pflegeheim gibt es kein Fahrrad, und ich glaube auch nicht, daß wir damit fahren dürften, wenn doch welche da wären. Und dann soll ich am Lido gewesen sein. Ich war aber noch nie am Lido, Signor Brunetti, mein ganzes Leben nicht.« Ihre Stimme wurde immer höher. »Wo waren Sie denn Ihrer Erinnerung nach?« fragte er. Die Frage schien sie zu erschrecken. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn, genau wie er es sie damals in seinem Dienstzimmer hatte tun sehen, und wieder schien sie überrascht zu sein, daß sie den schützenden Halt ihrer Haube nicht fand. Mit den Kuppen des Zeige- und Mittelfingers rieb sie über den Verband, der ihre Schläfe bedeckte, als wollte sie die Gedanken dort herausholen.
»Ich weiß, daß ich im Pflegeheim war«, sagte sie schließlich. »Da, wo meine Mutter ist?« fragte Brunetti. »Natürlich. Da arbeite ich doch.« Die Nonne trat vor, vielleicht auf die zunehmende Erregung in Maria Testas Stimme hin. »Ich glaube. Sie sollten jetzt keine weiteren Fragen stellen, Signore.«
»Nein, nein, er soll bleiben«, flehte Maria. Brunetti sah die Unentschlossenheit der Nonne und sagte: »Vielleicht ist es leichter, wenn nur ich rede.«
Die Nonne sah von Brunetti zu Maria Testa, die nickte und flüsterte: »Bitte. Ich möchte wissen, was passiert ist.«
Die Nonne blickte auf ihre Uhr und sagte in diesem energischen Ton, den Leute anschlagen, wenn sie die Chance bekommen, ihre begrenzte Macht zu gebrauchen: »Also gut, aber nur fünf Minuten.« Brunetti hoffte daraufhin, sie würde hinausgehen, was sie aber nicht tat, sie stellte sich nur ans Bettende und hörte ganz offen ihrem Gespräch zu.
»Sie waren auf einem Fahrrad, als das Auto Sie anfuhr, und Sie waren am Lido, wo Sie in einer Privatklinik
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