Brunetti 06 - Sanft entschlafen
mußten so behutsam tasten wie die Schnurrhaare einer Katze. Er versuchte sich zu erinnern, ob er Suor Immacolata je gesagt hatte, daß er commissario war. Vielleicht hatte er es an einem jener langen Nachmittage, an denen seine Mutter ihm gestattete, ihre Hand zu halten - aber nur, solange die junge Frau, die sie am liebsten mochte, mit im Zimmer blieb -, einmal beiläufig erwähnt. Über irgend etwas hatten sie da ja reden müssen, denn seine Mutter sprach oft stundenlang kein Wort, summte nur tonlos vor sich hin. Und Suor Immacolata, wie durch die Tracht an ihrer Persönlichkeit amputiert, hatte selten etwas von sich erzählt - aber sie hatte Brunetti hin und wieder mit ihren scharfsinnigen Bemerkungen über die Menschen verblüfft, die ihre kleine, abgegrenzte Welt bewohnten. Damals mußte er wohl, wie immer auf der Suche nach Gesprächsthemen, um diese endlosen schmerzlichen Stunden zu füllen, auch über seinen Beruf gesprochen haben. Und sie hatte zugehört und sich erinnert und war nun, ein Jahr später, mit ihrer Geschichte und ihrer Angst zu ihm gekommen.
Früher hatte es für Brunetti gewisse Dinge gegeben, deren er Menschen nur schwer, manchmal auch gar nicht für fähig halten konnte. Er hatte einmal geglaubt, oder sich vielleicht auch nur mit aller Macht eingeredet, daß es für menschliche Niedertracht Grenzen gebe. Als er dann aber im Lauf der Zeit sehen mußte, wozu Menschen alles bereit waren, um ihre diversen Gelüste zu befriedigen - das verbreitetste von ihnen, Habgier, war oft auch das unwiderstehlichste -, hatte er diese Illusion unter der steigenden Flut abbröckeln sehen, bis er sich manchmal vorkam wie dieser verrückte irische König, dessen Namen er nie richtig aussprechen konnte, der am Meeresufer stand und mit seinem Schwert auf die anrollenden Wogen einhieb, rasend gemacht von der Unbezwingbarkeit der schwellenden Wasser.
Es erstaunte ihn also nicht mehr, daß alte Leute ihres Geldes wegen umgebracht wurden; was ihn erstaunte, waren höchstens die Methoden, weil sie zumindest auf den ersten Blick äußerst unzuverlässig oder leicht durchschaubar waren.
Auch hatte er im Lauf der Jahre, in denen er sein Handwerk ausübte, gelernt, daß die wichtigste Spur, der es zu folgen galt, immer die des Geldes war. Der Ort, an dem sie begann, war gewöhnlich vorgegeben: die Person, der man es entweder mit Gewalt oder durch Täuschung genommen hatte. Der andere Ort, wo sie endete, war ungleich schwerer zu finden, allerdings auch der bedeutsamere. Cui bono?
Wenn Suor Immacolata recht hätte - er zwang sich, in der Möglichkeitsform zu denken -, dann müßte er als erstes das Ende der Spur finden, die das Geld dieser alten Leute hinterlassen hatte, und diese Suche konnte nur bei ihren Testamenten beginnen.
Er fand Signorina Elettra an ihrem Schreibtisch vor und war erstaunt, sie an ihrem Computer arbeiten zu sehen. Fast hatte er damit gerechnet, sie über der Zeitung oder einem Kreuzworträtsel anzutreffen, zur Feier von Pattas Abwesenheit. »Signorina, was wissen Sie über Testamente?« fragte er schon beim Eintreten.
»Daß ich noch keins gemacht habe«, sagte sie leichthin und lächelte, behandelte die Frage als etwas Fernliegendes, wie es wohl jeder tut, wenn er erst Anfang Dreißig ist.
Auf daß du nie in diese Verlegenheit kommen mögest, wünschte Brunetti ihr im stillen. Er erwiderte ihr Lächeln nur kurz, bevor er seinerseits wieder ernst wurde. »Schön, dann also über anderer Leute Testamente.«
Als sie merkte, daß es ihm ernst damit war, wirbelte sie auf ihrem Drehstuhl herum und sah ihn an, um auf seine Erklärung zu warten.
»Ich möchte in Erfahrung bringen, was in den Testamenten von fünf Leuten steht, die letztes Jahr hier im Altersheim San Leonardo gestorben sind.«
»Waren die Leute aus Venedig?« fragte sie.
»Das weiß ich nicht. Warum? Spielt das eine Rolle?«
»Testamente werden von dem Notar eröffnet, der sie aufgesetzt hat, unabhängig davon, wo der Betreffende gestorben ist. Wenn diese Leute ihr Testament hier in Venedig gemacht haben, brauche ich nur noch den Namen des Notars.«
»Und wenn ich den nicht kenne?« fragte er.
»Dann wird es schwieriger.«
»Schwieriger?«
Ihr Lächeln war offen, ihre Stimme sachlich. »Da Sie nicht einfach die Erben um Kopien bitten, Commissario, denke ich mir, daß von Ihren Nachforschungen niemand etwas wissen soll.« Wieder lächelte sie. »Es gibt eine Zentralstelle, wo sie registriert sind. Das Register wurde vor zwei
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