Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Jahren im Computer erfaßt, kein Problem also, aber wenn die Notare in irgendeinem kleinen paese auf dem Festland sitzen, wo man das noch nicht auf dem Computer hat, dann könnte es etwas umständlicher werden.«
»Und wenn sie hier registriert sind, können Sie das in Erfahrung bringen?«
»Natürlich.«
»Wie?«
Sie blickte auf ihren Rock und schnippte ein unsichtbares Stäubchen weg. »Ich glaube, das möchten Sie gar nicht wissen.« Und als sie sah, daß sie seine volle Aufmerksamkeit hatte, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen würden, Commissario, oder ob ich es Ihnen richtig erklären könnte, aber es gibt Mittel und Wege, an die Codes heranzukommen, die einem Zugang zu fast allen Informationen verschaffen. Je öffentlicher das Ganze ist - Stadtverwaltungen, Staatsarchive -, desto leichter ist der Code herauszubekommen. Und wenn man den erst hat, ist es... nun, als wären die Leute nach Hause gegangen und hätten die Bürotür offen- und das Licht angelassen.«
»Gilt das für alle staatlichen Behörden?« fragte Brunetti beklommen.
»Ich glaube, auch das möchten Sie lieber nicht wissen«, antwortete sie, ihr Lächeln wie weggewischt.
»Wie leicht kommt man an solche Informationen heran?« fragte er.
»Sagen wir mal, das hängt unmittelbar damit zusammen, wie geschickt derjenige ist, der danach sucht.«
»Und wie geschickt sind Sie, Signorina?«
Die Frage löste wieder ein Lächeln aus, ein ganz winziges. »Ich glaube, das ist noch so eine Frage, auf die ich lieber nicht antworten möchte, Commissario.«
Er betrachtete die weichen Konturen ihres Gesichts und entdeckte zum erstenmal zwei dünne Fältchen, die von den Augenwinkeln ausgingen, zweifellos eine Folge häufigen Lächelns. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß er eine junge Frau mit kriminellen Talenten und, höchstwahrscheinlich, krimineller Energie vor sich hatte.
Ohne Rücksicht auf seinen Diensteid fragte Brunetti: »Wenn die Leute aber von hier sind, dann können Sie mir die Informationen beschaffen?«
Er sah, wie sie sich bemühte, jede Spur von Stolz aus ihrem Ton herauszuhalten, aber sie bemühte sich vergebens. »Aus dem standesamtlichen Archiv, Commissario?«
Brunetti nickte, amüsiert über den herablassenden Ton, in dem eine frühere Angestellte der Banca d'Italia von einer bloßen Behörde sprach.
»Die Namen der Haupterben kann ich Ihnen bis nach der Mittagspause besorgen. Mit den Testamentskopien dürfte es ein, zwei Tage dauern.«
Angabe können sich nur die Jungen und Schönen leisten, dachte Brunetti. »Nach der Mittagspause, das wäre gerade recht, Signorina.« Er ließ die Liste mit den Namen und Sterbedaten auf ihrem Schreibtisch liegen und ging in sein Dienstzimmer zurück.
Als er wieder am Schreibtisch saß, las er noch einmal die beiden Namen, die er sich aufgeschrieben hatte: Dr. Fabio Messini und Padre Pio Cavaletti. Er kannte keinen von ihnen, aber in einer Stadt mit solch inzestuöser Sozialstruktur war das für jemanden, der Informationen brauchte, unerheblich.
Er rief unten an, wo die Uniformierten ihren Dienst taten. »Vianello, könnten Sie mal kurz heraufkommen? Und bringen Sie auch Miotti mit, ja?« Während er auf das Erscheinen der beiden Polizisten wartete, malte er gedankenverloren Striche unter die Namen, und erst als Vianello und Miotti zur Tür hereinkamen, merkte er, daß es Kreuze waren. Er legte den Stift weg und wies die beiden zu den Stühlen vor seinem Schreibtisch.
Als Vianello sich hinsetzte, klappte seine Uniformjacke auf, die er nicht zugeknöpft hatte, und Brunetti sah, daß er dünner aussah als im Winter.
»Machen Sie eine Schlankheitskur, Vianello?« fragte er.
»Nein, Commissario«, antwortete der Sergente, überrascht, daß Brunetti das gemerkt hatte. »Fitneßtraining.«
»Was?« Brunetti, für den der Gedanke an Fitneßtraining fast etwas Obszönes hatte, versuchte seine Verblüffung erst gar nicht zu verbergen.
»Fitneßtraining«, wiederholte Vianello. »Ich gehe nach der Arbeit für eine halbe Stunde oder so ins Studio.«
»Und was machen Sie dort?«
»Trainieren, Commissario.«
»Wie oft?«
»Sooft ich kann«, antwortete Vianello, plötzlich ausweichend.
»Und wie oft ist das?«
»Hm, drei- bis viermal die Woche.«
Miotti saß stumm dabei und drehte den Kopf von einem zum anderen, während er dieser seltsamen Unterhaltung folgte. War das Verbrechensbekämpfung?
»Und was machen Sie, wenn Sie da hingehen?«
»Ich trainiere, Commissario.«
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