Brunetti 06 - Sanft entschlafen
ihrem Gesicht. »Sie werden aber doch nicht mit ihm reden, nein?«
»Ich glaube nicht. Aber wissen möchte ich ihn gern. Falls es nötig wird.«
»Cavaletti«, sagte sie.
»Wissen Sie mehr über ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nur daß er zweimal die Woche kommt, um die Beichte zu hören, und wenn jemand sehr krank ist, kommt er, um ihm die letzte Ölung zu spenden. Ich hatte selten Zeit, mit ihm zu sprechen. Außerhalb des Beichtstuhls, meine ich.« Sie besann sich einen Augenblick, dann sprach sie weiter: »Das letzte Mal habe ich ihn vor etwa einem Monat gesehen, am Namenstag der Mutter Oberin, das war der zwanzigste Februar.« Plötzlich zog sie die Lippen ein und kniff die Augen zusammen, als täte ihr etwas furchtbar weh. Brunetti fürchtete schon, sie könne ohnmächtig werden, und beugte sich zu ihr vor.
Sie öffnete die Augen, sah ihn an und hob abwehrend die Hand. »Ist das nicht merkwürdig?« fragte sie. »Daß ich mich an ihr Namensfest erinnere?« Sie wandte den Blick ab, dann sah sie ihn wieder an. »Ich weiß nicht einmal mehr meinen Geburtstag. Nur den Tag der Unbefleckten, am achten Dezember.« Sie schüttelte den Kopf, ob traurig oder verwundert, hätte er nicht sagen können. »Es ist, als hätte ein Teil von mir die ganzen Jahre gar nicht mehr existiert, wie ausgelöscht. Ich weiß nicht mehr, wann mein Geburtstag ist.«
»Sie könnten vielleicht den Tag, an dem Sie das Kloster verlassen haben, dazu ernennen«, schlug Brunetti vor und lächelte zum Zeichen, daß er es nur freundlich meinte.
Sie hielt seinem Blick kurz stand, dann hob sie, die Augen geschlossen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an die Stirn und rieb sich darüber. »La vita nuova«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm.
Unvermittelt stand sie auf. »Ich glaube, ich möchte jetzt gehen, Commissario.« Ihr Blick war weniger ruhig als ihre Stimme, weshalb Brunetti keinen Versuch machte, sie aufzuhalten.
»Können Sie mir noch den Namen der Pension sagen, in der Sie wohnen?«
»La Pergola.«
»Am Lido?«
»Ja.«
»Und wie heißen die Leute, die Ihnen geholfen haben?«
»Warum wollen Sie denn das wissen?« fragte sie ernstlich erschrocken.
»Weil ich immer alles wissen möchte«, sagte er. Eine ehrliche Antwort.
»Sassi. Vittorio Sassi. Via Morosini Nummer elf.«
»Danke«, sagte Brunetti, ohne sich diese Namen zu notieren. Sie wandte sich zur Tür, und einen Moment lang glaubte er schon, daß sie ihn fragen würde, was er denn nun eigentlich in dieser Sache unternehmen wolle, aber sie sagte nichts. Er stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, hoffte ihr wenigstens noch die Tür öffnen zu können, aber sie war schneller. Sie hatte sie bereits aufgemacht, warf noch einen kurzen Blick zu ihm zurück, ohne dabei zu lächeln, und ging aus dem Zimmer.
2
B runetti wandte sich wieder der Betrachtung seiner Füße zu, aber sie sprachen ihm nicht länger von Muße. Wie eine übermächtige Gottheit beherrschte seine Mutter all sein Denken, sie, die seit Jahren in den unerforschbaren Gefilden der Irren wandelte. Die Angst um ihre Sicherheit schlug mit wilden Flügeln auf ihn ein, obwohl er genau wußte, daß seiner Mutter nur noch eine letzte absolute Sicherheit blieb, eine Sicherheit, die sein Herz nicht wünschen konnte, sosehr ihn sein Verstand auch drängte. Unwillkürlich fühlte er sich hineingezogen in die Erinnerungen der letzten sechs Jahre, befingerte sie wie die Perlen eines grausigen Rosenkranzes.
Plötzlich stieß er mit einer heftigen Bewegung die Schublade zu und stand auf. Suor Immacolata - noch konnte er sie nicht anders nennen - hatte ihm versichert, daß seiner Mutter keine Gefahr drohe; bisher hatte er auch noch keinerlei Hinweis darauf, daß überhaupt Gefahr bestand. Alte Menschen starben nun einmal, und oft war es eine Erlösung für sie und ihre Nächsten, wie es auch für... Er ging zurück an seinen Schreibtisch und nahm die Liste, die sie ihm gegeben hatte, las noch einmal die Namen und das jeweilige Alter.
Schon stellte Brunetti die ersten Überlegungen an, wie er mehr über diese Leute erfahren könne, über ihr Leben und ihren Tod. Suor Immacolata hatte die Todesdaten notiert, über diese käme er an die Sterbeurkunden im Rathaus heran, das erste Wegstück im unüberschaubaren Labyrinth der Bürokratie, durch das er schließlich auch an die Kopien ihrer Testamente käme. Spinnfäden - seine Neugier mußte so leicht und luftig sein wie Spinnfäden, seine Fragen
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