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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Umschlag und warf ihn sanft auf den Tisch. Nachdem er einen kurzen Augenblick überlegt hatte, wie er seinen Satz formulieren sollte, fragte er Paola: »Du hast nichts zu ihr gesagt, nein?«
    In ihrem großen Freundeskreis sah jeder in Paola etwas anderes, alle aber kannten sie als »una. mangiapreti«, eine Pfaffenfresserin. Ihr Haß auf alles Klerikale, der manchmal aus ihr herausbrach, konnte sogar Brunetti noch überraschen, obwohl ihn eigentlich schon lange nichts mehr so recht erschütterte, was Paola sagte oder tat. Aber dieses Thema war für sie ein rotes Tuch, etwas, was sie mehr als alles andere - und dies so unvermittelt wie unfehlbar - in flammende Wut versetzen konnte.
    »Du weißt doch, daß ich zugestimmt habe«, sagte sie, wobei sie sich vom Herd weg- und ihm zuwandte. Es hatte Brunetti schon immer gewundert, daß Paola sich so bereitwillig dem Rat ihrer beiden Familien gebeugt hatte, die Kinder taufen und am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen. »Ein Teil der abendländischen Kultur«, sagte sie oft mit eisiger Höflichkeit. Aber die Kinder waren nicht dumm und hatten schnell begriffen, daß Paola nicht diejenige war, an die man sich mit Glaubensfragen wenden konnte, allerdings hatten sie auch ebensoschnell begriffen, daß ihre Kenntnis der Kirchengeschichte und des theologischen Disputs nahezu allumfassend war. Wenn sie den Unterschied zwischen nizäischem und athanasianischem Glaubensbekenntnis erklärte, war dies eine Lehrstunde in nüchterner Objektivität und wissenschaftlicher Genauigkeit; wenn sie die Jahrhunderte des Blutvergießens brandmarkte, die aus diesem Unterschied erwuchsen, waren ihre Tiraden, um ein gemäßigtes Wort dafür zu wählen, unmäßig.
    Sie hatte die ganzen Jahre Wort gehalten und niemals offen, zumindest nicht in Gegenwart der Kinder, etwas gegen das Christentum oder Religionen überhaupt gesagt. Wenn Chiara also etwas gegen Religion hatte oder sich von irgendwelchen Vorstellungen zur »Störung des Unterrichts« verleiten ließ, so konnte der Auslöser nicht in etwas liegen, was Paola je gesagt hätte, jedenfalls nicht offen.
    Beide drehten sich um, als sie die Tür aufgehen hörten, aber es war Raffi, nicht Chiara. »Ciao, mamma«, rief er auf dem Weg zu seinem Zimmer, um seine Schulsachen abzulegen. »Ciao, papà.« Wenig später kam er in die Küche. Er bückte sich, um Paola einen Kuß auf die Wange zu drücken, und Brunetti, der noch saß, sah seinen Sohn aus einer anderen Perspektive, nämlich größer.
    Raffi hob den Deckel von der Bratpfanne, und als er sah, was darin war, gab er seiner Mutter gleich noch einen Kuß. »Ich sterbe vor Hunger, mamma. Wann essen wir?«
    »Sobald deine Schwester da ist«, sagte Paola und drehte die Flamme unter dem kochenden Wasser kleiner.
    Raffi schob seinen Ärmel zurück und sah auf die Uhr. »Du weißt doch, daß sie immer pünktlich ist. In genau sieben Minuten kommt sie zur Tür herein, also kannst du die Pasta doch jetzt schon ins Wasser tun.« Er griff sich ein Zellophanpäckchen grissini vom Tisch, riß es auf und zog drei von den dünnen Gebäckstangen heraus. Er steckte sich die Enden in den Mund und knabberte sie wie ein Kaninchen, das drei lange Grashalme mummelt, in sich hinein, bis sie verschwunden waren. Dasselbe machte er mit drei weiteren. »Komm schon, mamma, ich bin schon fast verhungert, und heute nachmittag muß ich noch zu Massimo, Physik lernen.«
    Paola stellte eine Platte mit gebratenen Auberginen auf den Tisch, nickte plötzlich zustimmend und begann, die Streifen frische Pasta ins kochende Wasser zu tun.
    Brunetti nahm das Zeugnis aus dem Umschlag und reichte es Raffaele. »Weißt du etwas davon?« fragte er.
    Erst seit wenigen Jahren, nachdem Raffi seine von den Eltern so bezeichnete »Karl-Marx-Phase« hinter sich gelassen hatte, waren auch seine Zeugnisse so makellos wie die seiner Schwester seit eh und je, aber selbst im schlimmsten schulischen Notstand jener Zeit war Raffi nie etwas anderes als stolz auf die Leistungen seiner Schwester gewesen.
    Er las das Zeugnis von oben bis unten durch und gab es seinem Vater zurück, ohne etwas zu sagen.
    »Und?« fragte Brunetti.
    »Stört den Unterricht? So, so«, war sein ganzer Kommentar.
    Paola schaffte es, beim Umrühren der Pasta ein paarmal laut an den Topf zu schlagen.
    »Weißt du etwas davon?« wiederholte Brunetti.
    »Also, nicht direkt«, sagte Raffi, der, falls er etwas wußte, offenbar Hemmungen hatte, damit herauszurücken. Als seine Eltern

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