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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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er das gut oder schlecht finden sollte.
    Er hatte an San Samuele aussteigen und den langen Weg über San Marco nehmen wollen, aber der Gedanke an die Menschenmassen, die das milde Wetter ins Freie gelockt haben mußte, ließ ihn weiter auf dem Boot bleiben, das er erst bei San Zaccaria verließ. Von dort nahm er den kürzesten Weg zur Questura, wo er kurz nach drei ankam, anscheinend aber vor den meisten uniformierten Kollegen.
    In seinem Zimmer mußte er feststellen, daß der Papierkram auf seinem Schreibtisch sich während seiner Mittagspause vermehrt hatte - vielleicht konnte Papier sich ja fortpflanzen. Signorina Elettra hatte ihm, wie versprochen, eine säuberlich getippte Liste mit den Namen der Haupterben jener Leute hingelegt, die Suor Immacolata - er korrigierte sich: Maria Testa - ihm genannt hatte. Sie hatte auch die Adressen und Telefonnummern dazugeschrieben, und als Brunetti die Liste überflog, sah er, daß drei von ihnen in Venedig wohnten. Der vierte lebte in Turin, und im letzten Testament waren sechs Erben aufgeführt, die alle nicht in Venedig wohnhaft waren. Zuunterst lag eine getippte Notiz von Signorina Elettra, daß sie die Kopien der Testamente bis morgen nachmittag beschaffen könne.
    Brunetti dachte kurz daran, sich telefonisch anzumelden, überlegte dann aber, daß es immer, zumindest beim ersten Gespräch, von gewissem Vorteil war, unangemeldet und nach Möglichkeit auch unerwartet zu erscheinen, also begnügte er sich damit, die Adressen auf dem Stadtplan, den er im Kopf hatte, in die geographisch sinnvollste Reihenfolge zu bringen und die Liste in seine Jackettasche zu stecken. Daß er sie lieber überraschte, hatte überhaupt nichts mit Schuld oder Unschuld der Leute zu tun, mit denen er sprach; lange Erfahrung hatte ihn nur gelehrt, daß Menschen eher bei der Wahrheit blieben, wenn man sie überrumpelte.
    Er beugte sich über die übrigen dienstlichen Papiere und begann zu lesen, lehnte sich aber schon bald auf seinem Stuhl zurück, zog den Stapel näher zu sich und las so weiter. Schon nach wenigen Minuten sorgten die Langweiligkeit des Inhalts, die Wärme des Zimmers und die Nachwirkung des Mittagessens dafür, daß ihm die Hände in den Schoß und das Kinn auf die Brust sanken. Irgendwann später wurde er vom Zuschlagen einer Tür auf dem Korridor aufgeschreckt. Er schüttelte den Kopf, fuhr sich ein paarmal mit den Händen übers Gesicht und wünschte sich einen Kaffee. Statt dessen sah er beim Aufblicken Vianello in der Tür stehen, die, wie ihm soeben dämmerte, während seines Nickerchens die ganze Zeit offen gewesen war.
    »Ah, Sergente«, sagte Brunetti mit dem Lächeln dessen, der die volle Übersicht über alles und jeden in der Questura hat. »Was gibt's?«
    »Ich hatte versprochen, Sie abzuholen. Es ist Viertel vor vier.«
    »So spät schon?« meinte Brunetti mit einem kurzen Blick auf die Uhr.
    »Ja, Commissario«, antwortete Vianello. »Ich war schon einmal hier, aber da waren Sie beschäftigt.« Vianello wartete, bis das richtig angekommen war, dann fügte er hinzu: »Was ich mache, hat den großen Vorteil, daß es mir soviel Schwung gibt, ein richtig gutes Gefühl.«
    Brunetti, der keine Ahnung hatte, wovon Vianello da sprach, wollte gerade antworten, daß der Mensch bei allem, was er tue, ein gutes Gefühl haben solle, als ihm aufging, daß der Sergente wahrscheinlich sein Fitneßtraining meinte, und dazu sagte er lieber nichts.
    »Ich meine, das gute Gefühl kommt davon, daß es mir soviel Schwung gibt«, fuhr der Sergente fort, aber als er sah, daß Brunetti nicht gewillt war, darauf einzugehen, sagte er: »Das Boot liegt bereit.«
    Auf der Treppe nach unten fragte Brunetti: »Haben Sie mit Miotti gesprochen?«
    »Ja, Commissario. Genau wie ich vermutet hatte.«
    »Sein Bruder ist schwul?« fragte Brunetti, ohne Vianello dabei auch nur anzusehen.
    Vianello blieb abrupt stehen, und als Brunetti sich zu ihm umdrehte, fragte der Sergente: »Woher wissen Sie das?«
    »Es schien ihm unangenehm zu sein, von seinem Bruder und dessen klerikalen Freunden zu sprechen, und mir fiel nichts anderes ein, was Miotti an einem Priester unangenehm sein könnte. Er ist nicht gerade der größte Freigeist unter unseren Beamten.« Und dann meinte Brunetti nach kurzem Überlegen noch: »Außerdem überrascht es einen ja nicht besonders, wenn ein Priester schwul ist.«
    »Das Gegenteil würde einen eher überraschen«, meinte Vianello, während er sich wieder in Bewegung setzte. Dann kam

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