Brunetti 06 - Sanft entschlafen
beide nichts sagten, meinte er betrübt: »Mamma wird Anfälle kriegen.«
»Weswegen?« fragte Paola mit aufgesetzter Munterkeit.
»Ach...« Raffi wurde von Chiaras Schlüssel im Türschloß unterbrochen.
»Aha, da kommt die Missetäterin persönlich«, sagte Raffi und goß sich ein Glas Mineralwasser ein.
Alle drei sahen Chiara zu, wie sie ihre Jacke an den Haken im Flur hängte, ihre Bücher auf den Boden fallen ließ, sie wieder aufhob und auf einen Stuhl legte. Dann kam sie zur Küche und blieb in der Tür stehen. »Ist jemand gestorben?« fragte sie ohne jede Andeutung von Ironie in der Stimme.
Paola bückte sich und nahm ein Sieb aus dem Schrank. Sie stellte es in den Ausguß und schüttete die Pasta mit dem kochenden Wasser hinein. Chiara blieb an der Tür. »Was ist los?« erkundigte sie sich.
Während Paola sich damit beschäftigte, zuerst die Pasta, dann die Soße in eine Schüssel zu geben, erklärte Brunetti: »Dein Zeugnis ist gekommen.«
Chiaras Gesicht wurde lang. Mehr als ein »Oh« kam nicht aus ihr heraus.
Sie schlüpfte an Brunetti vorbei und setzte sich auf ihren Platz am Tisch.
Paola häufte allen vieren, bei Raffi beginnend, große Portionen Pasta auf die Teller, dann streute sie ihnen großzügig geriebenen Parmesankäse darauf. Alle fingen an zu essen.
Als Chiara ihren Teller leer hatte und ihn ihrer Mutter zum Nachschlag hinhielt, fragte sie: »Religion, ja?«
»Ja. Da hast du eine ziemlich schlechte Note«, antwortete Paola.
»Wie schlecht?«
»Unbefriedigend.«
Chiara unterdrückte eine Grimasse, aber mehr schlecht als recht.
»Weißt du, warum?« fragte Brunetti, die Hände über seinem leeren Teller, um Paola zu bedeuten, daß er nichts mehr wolle.
Chiara machte sich über ihre zweite Portion her, während Paola den Rest auf Raffis Teller lud. »Nein, ich glaube nicht.«
»Lernst du nicht fleißig genug?« erkundigte sich Paola.
»Da gibt's nichts zu lernen«, versetzte Chiara. »Nur diesen blöden Katechismus. Den hat man in einem Nachmittag im Kopf.«
»Also?« fragte Brunetti.
Raffi nahm sich ein Brötchen aus dem Korb, der auf dem Tisch stand, brach es durch und begann damit die Soße von seinem Teller aufzuwischen. »Don Luciano?« fragte er.
Chiara nickte und legte ihre Gabel hin. Sie warf einen Blick zum Herd, um zu sehen, was es noch zu essen gab.
»Kennst du diesen Don Luciano?« wandte Brunetti sich an Raffi.
Der verdrehte die Augen. »Mein Gott, wer kennt den nicht!« Dann zu seiner Schwester: »Warst du schon mal bei ihm zur Beichte, Chiara?«
Sie schüttelte rasch den Kopf, sagte aber nichts.
Paola stand auf und nahm die Vorspeisenteller von den größeren Tellern, die darunter standen. Dann öffnete sie die Herdklappe, nahm eine Platte mit cotoletta alla milanese heraus, verteilte Zitronenscheiben auf dem Rand und stellte das Ganze auf den Tisch. Während Brunetti sich zwei Stück Fleisch auf den Teller legte, nahm sich Paola schweigend von den Auberginen.
Brunetti sah, daß Paola sich heraushalten wollte, und fragte Raffi: »Wie ist es denn, bei ihm zu beichten?«
»Oh, er ist bei den Kindern berühmt«, antwortete Raffi, während er sich zwei Koteletts auftat.
»Berühmt wofür?« fragte Brunetti.
Statt zu antworten, warf Raffi einen Blick zu Chiara. Beide Eltern sahen sie kaum merklich den Kopf schütteln und sich dann angelegentlich über ihren Teller beugen.
Brunetti legte seine Gabel hin. Chiara sah nicht auf, und Raffi blickte kurz zu Paola, die immer noch schwieg.
»Na gut«, sagte Brunetti schärfer, als er eigentlich gewollt hatte. »Was geht hier vor, und was sollen wir über diesen Don Luciano nicht wissen?«
Er sah von Raffi, der seinem Blick auswich, zu Chiara und war überrascht, ihr Gesicht dunkelrot angelaufen zu sehen.
Er dämpfte seinen Ton: »Chiara, darf Raffi uns sagen, was er weiß?«
Sie nickte, aber sah nicht auf.
Raffi tat es seinem Vater nach und legte ebenfalls seine Gabel hin. Aber dann lächelte er: »Es ist eigentlich nichts so Besonderes, papà.«
Brunetti schwieg. Paola hätte ebensogut taubstumm sein können.
»Es geht nur darum, wie er mit den Kindern redet. Wenn sie was mit Sex zu beichten haben.« Er verstummte.
»Sex?« wiederholte Brunetti.
»Du weißt schon, papà. Was Kinder da so machen.«
Brunetti wußte es. »Und was macht Don Luciano dann?« fragte er.
»Er läßt es sich von ihnen schildern. Sie müssen ihm eben alles sagen.« Raffi gab einen Laut von sich, der ein Mittelding zwischen
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