Brunetti 06 - Sanft entschlafen
warf Mantel und Jackett über die Lehne eines Küchenstuhls, holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und murmelte: »Hm, riecht gut«, während er auf der Suche nach einem Glas um sie herumging.
»Nicht eure Aufgabe?« wiederholte sie, und ihr Ton sagte ihm, daß sie »ein Thema« gefunden hatte.
»Nein, solange sie nicht offiziell Anzeige erstattet, was sie bisher aber nie getan hat.«
»Vielleicht hat sie Angst vor ihm.«
»Paola«, sagte er entnervt, denn er hatte darum herumzukommen gehofft, »sie bringt doppelt soviel auf die Waage wie er, mindestens hundert Kilo. Ich bin überzeugt, sie könnte ihn aus dem Fenster schmeißen, wenn sie nur wollte.«
»Aber?« fragte sie, denn sie hatte das Unausgesprochene aus seinem Ton herausgehört.
»Aber sie will nicht, würde ich sagen. Sie streiten, die Sache eskaliert, und dann ruft sie uns.« Er füllte sein Glas, trank einen Schluck und hoffte es hinter sich zu haben.
»Und dann?« fragte Paola.
»Dann nehmen wir ihn hopp, bringen ihn in die Questura und behaken ihn da, bis sie ihn am nächsten Morgen abholt. Das passiert etwa alle sechs Monate einmal, aber nie hat sie irgendwelche ernsthaften Gewaltspuren an sich, und jedesmal ist sie froh, ihn wieder mit nach Hause nehmen zu können.«
Paola dachte noch eine kleine Weile darüber nach, aber schließlich ließ sie das Thema mit einem Achselzucken fallen. »Komisch, nicht?«
»Sehr«, pflichtete Brunetti ihr bei. Aus langer Erfahrung wußte er, daß sie beschlossen hatte, das Thema nicht weiterzuverfolgen.
Als er sich bückte, um Mantel und Jackett von der Stuhllehne zu nehmen und zur Garderobe zu tragen, sah er einen braunen Umschlag auf dem Tisch liegen.
»Ist das Chiaras Zeugnis?« fragte er, während er danach griff.
»Hmmmh«, machte Paola, die gerade Salz in das Wasser tat, das auf der hinteren Herdflamme kochte. »Wie ist es denn?« fragte er. »Gut?« »Ausgezeichnet in allen Fächern, außer einem.« »Leibeserziehung?« fragte er ein wenig ratlos, denn Chiara hatte sich gleich bei Schuleintritt zu den Besten in ihrer Klasse emporgearbeitet und diesen Platz bis jetzt gehalten. Aber seine Tochter war wie er, zog Faulenzen jeder sportlichen Betätigung vor, weshalb er sich nur bei diesem Fach vorstellen konnte, daß Chiara darin nicht gut war. Er nahm das Blatt aus dem Umschlag und überflog es. »Religionsunterricht?« fragte er. »Religionsunterricht?« Paola sagte nichts, also wandte er sich wieder dem Zeugnis zu und las die Anmerkung des Lehrers zur Begründung der Note »unbefriedigend«. »›Stellt zu viele Fragen‹?« las er laut. »Und: ›Stört den Unterricht.‹ Was soll das?« fragte Brunetti, indem er Paola das Blatt unter die Nase hielt.
»Da wirst du sie selbst fragen müssen, wenn sie nach Hause kommt.«
»Ist sie denn noch nicht da?« Brunetti befiel der irre Gedanke, daß Chiara vielleicht ihr schlechtes Zeugnis kannte und sich nun irgendwo versteckt hielt, sich nicht nach Hause traute. Doch bei einem Blick auf die Uhr sah er, daß es noch früh am Tag war; sie konnte erst in einer Viertelstunde da sein.
Paola, die gerade vier Teller auf dem Tisch verteilte, schubste ihn mit der Hüfte sanft beiseite.
»Hat sie dir darüber schon etwas gesagt?« fragte Brunetti, indem er Platz machte.
»Nichts Bestimmtes. Nur daß sie den Priester nicht leiden kann, aber nicht, warum. Beziehungsweise, ich habe sie nicht gefragt, warum.«
»Was ist das denn für ein Priester?« wollte Brunetti wissen, während er einen Stuhl unter dem Tisch hervorzog und sich an seinen Platz setzte.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, ob er - wie nennt man das noch? - ein weltlicher Priester ist oder einem Orden angehört.«
»Ich glaube, er ist ein normaler Pfarrpriester, von der Kirche bei der Schule.«
»San Polo?«
»Ja.«
Während dieses Gesprächs las Brunetti die Beurteilungen der anderen Lehrer, die samt und sonders Chiaras Intelligenz und Fleiß lobten. Ihr Mathematiklehrer nannte sie eine »außerordentlich begabte Schülerin mit einer besonderen Anlage für Mathematik«, und ihr Italienischlehrer ging so weit, Chiaras schriftlichen Ausdruck als »elegant« zu bezeichnen. Keiner der Kommentare enthielt irgendeine Einschränkung, nirgends trat die natürliche Neigung von Lehrern zutage, stets eine strenge Ermahnung einzuflechten, um der Eitelkeit zu wehren, die jedes lobende Wort gewiß zur Folge hatte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Brunetti. Er steckte die pagella wieder in den
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