Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Kichern und Stöhnen war, und brach ab.
Brunetti warf einen Blick zu Chiara und sah, daß sie noch röter geworden war. »Verstehe«, sagte er.
»Eigentlich nur traurig«, meinte Raffi.
»Hat er das je mit dir gemacht?« fragte Brunetti.
»Nein, nein, ich gehe schon seit Jahren nicht mehr zur Beichte. Aber das macht er sowieso nicht bei den Jungen, nur bei den Mädchen.«
»Ist das alles, was er tut?« fragte Brunetti.
»Es ist alles, was ich weiß, papà. Ich hatte ihn bis vor ungefähr vier Jahren in Religion, und da hat er uns nur den Katechismus auswendig lernen und aufsagen lassen. Aber zu den Mädchen hat er immer so komische Sachen gesagt; ich meine seltsame, nicht zum Lachen komische.« Er wandte sich an seine Schwester: »Tut er das immer noch?«
Sie zuckte die Achseln.
»Bei dir, Chiara?« fragte Brunetti. Sie schüttelte den Kopf.
»Bei einer, die du kennst?«
Wieder eine stumme Verneinung.
»Möchte jemand noch ein Kotelett?« fragte Paola in ganz normalem Ton. Zweimaliges Kopfschütteln und ein Grunzen waren die Antwort, die sie zum Anlaß nahm, die Platte abzuräumen. Sie aßen ihren puntarella-Salat in aller Stille, die nur vom Klappern ihrer Gabeln auf den Tellern unterbrochen wurde. Paola hatte zum Nachtisch eigentlich nur frisches Obst auftischen wollen, aber nun öffnete sie statt dessen eine Pappschachtel, die auf dem Küchentresen stand, und entnahm ihr eine dicke Torte, garniert mit frischen Früchten und gefüllt mit Schlagsahne. Ursprünglich hatte sie diese in die Universität mitnehmen wollen, um sie nach der monatlichen Fakultätssitzung ihren Kollegen vorzusetzen.
»Chiara, bist du so lieb und holst die Kuchenteller?« meinte sie, während sie ein breites silbernes Messer aus einer Schublade nahm.
Die Stücke, die sie abschnitt, waren für Brunettis Begriffe groß genug, um sie alle in einen Insulinschock zu jagen. Aber der süße Kuchen, dann der Kaffee und dann das Gespräch über den ersten richtigen Frühlingstag, der ebenso süß war wie der Kuchen, ließen wieder so etwas wie eine friedliche Stimmung in der Familie aufkommen. Hinterher erklärte Paola, sie werde den Abwasch machen, während Brunetti beschloß, die Zeitung zu lesen. Chiara verzog sich in ihr Zimmer, und Raffi ging zu seinem Freund, um Physik zu pauken. Weder Brunetti noch Paola sprachen weiter über das Thema, aber beide wußten, daß sie mit Don Luciano noch nicht fertig waren.
3
N ach dem Mittagessen nahm Brunetti zwar seinen Mantel mit, aber er hängte ihn sich für den Weg zur Questura nur über die Schultern und genoß, behaglich durchgewärmt nach dem üppigen Mahl, die Milde des Tages. Er zwang sich, die Enge seines Anzugs zu ignorieren, indem er sich sagte, daß es nur die ungewohnte Wärme sei, die ihn das Gewicht des schweren Wollstoffs spüren ließ. Außerdem nahm doch im Winter jeder seine ein oder zwei Kilo zu; es tat einem wahrscheinlich nur gut, stärkte die Abwehrkräfte gegen Krankheiten.
Als er gerade von der Rialtobrücke hinunterging, sah er am embarcadero rechts von ihm ein zweiundachtziger Boot anlegen und rannte, ohne nachzudenken, los, um es zu erwischen, was er auch gerade noch schaffte, bevor es wieder ablegte und die Kanalmitte ansteuerte. Er begab sich auf die rechte Seite des Boots, blieb aber draußen an Deck und freute sich an der Brise und den Lichtreflexen, die auf dem Wasser tanzten. Rechts sah er die Calle Tiepolo näher kommen und spähte angestrengt die enge Gasse hinauf nach dem Geländer seiner Dachterrasse, aber das Boot glitt so schnell vorbei, daß er nichts erkennen konnte, und so wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Canal Grande zu.
Brunetti fragte sich oft, wie es wohl in den Tagen der Serenissima gewesen war, als man diese herrliche Fahrt noch allein mit Ruderkraft machte, sich in einer Stille bewegte, in der keine Motoren brummten und Hupen dröhnten und man nichts als das »Ouie« der Bootsleute und das Platschen der Ruderblätter vernahm. So vieles hatte sich verändert:
Die heutigen Kaufleute verkehrten miteinander über diese gräßlichen telefonini, nicht mehr mit Segelschiffen. Die Luft stank nach den Auto- und Industrieabgasen, die vom Festland herüberwehten; kein Seewind schien in der Lage, die Stadt einmal richtig sauberzublasen. Das einzige, was die Zeit unangetastet gelassen hatte, war das tausendjährige Erbe der Käuflichkeit, und Brunetti fühlte sich bei dem Gedanken immer etwas unbehaglich, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob
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