Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Letzte Ölung erteilt, und über seinem Leichnam wurde eine Messe gelesen.
Vielleicht war all das seiner Frau zuliebe geschehen. Brunetti hatte genug Erfahrung mit dem Tod, um zu wissen, wie viel Trost der Glaube den Hinterbliebenen zu spenden vermag. Womöglich hatte er selbst das bei einem der letzten Gespräche mit seiner Mutter - oder jedenfalls einem der letzten, solange sie noch geistig klar war - im Hinterkopf gehabt. Sie wohnte damals noch zu Hause, aber ihre Söhne hatten bereits eine Nachbarstochter zu ihrer Betreuung engagiert, die sich erst tagsüber und dann auch nachts um sie kümmerte.
Im letzten Jahr, bevor die Mutter ihnen endgültig entglitten und in jene Welt abgedriftet war, in der sie ihre letzten Lebensjahre zubrachte, hatte sie aufgehört zu beten. Ihr einst so heißgeliebter Rosenkranz war ebenso verschwunden wie das Kreuz auf dem Nachtkasten; und sie ging auch nicht mehr zur Messe, obwohl die junge Frau, die unter ihr wohnte, oft genug ihre Begleitung anbot.
»Heute nicht«, entgegnete die Mutter jedes Mal, wie um sich die Möglichkeit offenzulassen, morgen oder am übernächsten Tag doch mitzugehen. Sie blieb so lange bei dieser Antwort, bis erst die junge Frau und dann die Familie Brunetti ihre Fragen einstellten. Was nicht hieß, dass ihnen ihr Zustand gleichgültig geworden wäre; sie resignierten nur vor den Begleiterscheinungen. Mit der Zeit bot ihr Verhalten immer mehr Anlass zur Besorgnis: An manchen Tagen erkannte sie ihre Söhne nicht, an anderen sehr wohl, und dann plauderte sie ganz unbefangen mit ihnen über ihre Nachbarn und deren Kinder. Allmählich aber verschob sich das Verhältnis, und die Tage, an denen sie ihre Söhne erkannte oder sich erinnerte, dass sie Nachbarn hatte, wurden immer seltener. An einem dieser letzten Tage, einem bitterkalten Wintertag vor sechs Jahren, hatte Brunetti sie am Spätnachmittag besucht. Es gab Tee und die Plätzchen, die sie am selben Morgen gebacken hatte, was allerdings purer Zufall war: Zwar hatte man ihr dreimal gesagt, dass er komme, aber es war ihr längst wieder entfallen.
Während sie beisammensaßen und an ihrem Tee nippten, beschrieb sie ein Paar Schuhe, das sie am Vortag in einem Schaufenster gesehen und gern gekauft hätte. Und obwohl Brunetti wusste, dass sie das Haus seit sechs Monaten nicht mehr verlassen hatte, bot er an, ihr die Schuhe zu besorgen, wenn sie ihm den Weg zu dem Laden beschreibe. Darauf warf sie ihm einen gequälten Blick zu, fing sich jedoch gleich wieder und antwortete, sie wolle lieber selbst hingehen und die Schuhe anprobieren, um sich zu vergewissern, ob sie auch passten.
Nach diesen Worten sah sie geflissentlich in ihre Teetasse, wie um ihre Gedächtnisschwäche zu überspielen. Und Brunetti hatte, um die Spannung zu lösen, aufs Geratewohl gefragt: »Sag mal, mamma, glaubst du eigentlich an den Himmel und das Leben nach dem Tod?«
Als sie die Augen zu ihrem jüngeren Sohn hob, fiel ihm auf, wie trüb die Iris geworden war. »Den Himmel?«, fragte sie zurück.
»Ja. Und Gott«, versetzte Brunetti. »Die ganzen Geschichten.«
Sie trank einen kleinen Schluck, beugte sich vor, um die Teetasse abzustellen, und straffte sich gleich darauf wieder. Sie saß immer kerzengerade, bis ganz zum Schluss. Dann lächelte sie, jenes Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn Guido eine seiner Fragen stellte, die so schwer zu beantworten waren. »Schön wäre es schon, meinst du nicht?«, entgegnete sie und bat ihn, ihr Tee nachzuschenken.
Brunetti spürte, wie Paola neben ihm den Schritt verhielt, und blieb ebenfalls stehen. Er tauchte aus seiner Erinnerung auf und war plötzlich hellwach für seine Umgebung. Dort in der Ecke, in Richtung Murano, stand ein blühender Obstbaum. Rosa Blüten. Kirsche? Pfirsich? Er war nicht sicher, kannte sich nur wenig aus mit Bäumen, aber er war doch froh um das Rosa, eine Farbe, die seine Mutter immer gemocht hatte, obwohl sie ihr nicht stand. Das Kleid, das sie im Sarg trug, war grau, aus leichter Sommerwolle; ein Kleid, das sie seit vielen Jahren besessen, aber nur selten getragen hatte, weil sie es, wie sie scherzhaft zu sagen pflegte, für ihr Begräbnis aufheben wolle. Nun denn.
Ein plötzlicher Windstoß wirbelte die Enden der violetten Stola des Priesters in die Luft. Der Geistliche blieb am Grab stehen und wartete, bis die Trauernden aufschlossen und um die ausgehobene Grube ein leicht verzerrtes Oval bildeten. Es war nicht der Gemeindepfarrer, der zuvor die Messe gelesen
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