Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
und in die Mühlen der Justiz zu geraten.« Was konnte dem Durchschnittsbürger mehr Angst einjagen? Die Furcht vor Einbruch und Diebstahl war im Vergleich dazu ein Klacks.
»Aber sie haben doch nichts verbrochen. Du hast das Alibi der Frau überprüft, und sie kam erst nach Hause, als das Mädchen schon tot war. Und der Vater war tatsächlich in Russland.«
»Sie bangen ja auch nicht um sich«, sagte Brunetti. »Sondern um die Tochter. Was immer sie gesehen und ihnen und der Polizei verschwiegen oder wobei sie ihren Verlobten beobachtet hat.« Dann beschloss er, ihr auch dies noch anzuvertrauen, und setzte hinzu: »Oder was sie womöglich selbst getan haben könnte.«
Er hörte, wie Paola scharf Luft holte. »Aber der kleine Junge sprach doch von einem Tigermann und nicht von einem Mädchen«, sagte sie.
»Ach, er ist noch ein Kind, Paola. Wahrscheinlich ist er auf und davon, sobald er jemanden aus dem Schlafzimmer kommen sah. Und hat seine Schwester im Stich gelassen.« Brunetti erhob sich. »Das wäre ein Grund für ihn, sich schuldig zu fühlen, und mehr noch dafür, die Schuld auf jemand anderen zu schieben.« Brunetti sah, wie unzufrieden sie mit dieser Alternative war, doch er sagte nur: »Ich glaube, ich möchte jetzt ins Bett.«
»Wo noch so viele Fragen offen sind?«, erwiderte sie schockiert.
»Das hier ist nicht einer von deinen Romanen, wo die Personen sich im letzten Kapitel zur Auflösung in der Bibliothek einfinden.« »In den Büchern, die ich lese, geht es nicht so zu«, gab sie pikiert zurück.
»Im Leben auch nicht«, antwortete Brunetti und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Zwei Tage später wurde Ariana Rocich auf San Michele beigesetzt. Die Kosten übernahm die Stadt Venedig, und da niemand wusste, welcher Konfession sie angehörte, verordneten die zuständigen Stellen ihr ein christliches Begräbnis. Brunetti und Vianello, die an der Trauerfeier teilnahmen, hatten beide große Kränze bestellt. Es waren die einzigen Blumen auf ihrem Sarg.
Der Klinikkaplan, Padre Antonin Scallon, las eine Messe über dem Sarg neben der offenen Grube. Der wehende Rock seiner weißen Ordenstracht verschmolz mit den weißen Rosen, die die Kränze schmückten. Brunettis Mutter lag in einem anderen Teil des Friedhofs, aber hier wie dort standen die gleichen Bäume.
Von den Blüten, die längst abgefallen waren, fand sich keine Spur mehr im Gras. Aber die Wipfel waren voller grüner Triebe, die sich bald zum ersten Laub des Jahres entfalten würden, und im Geäst huschten Vögel umher, die an ihren Nestern bauten.
Nachdem der Priester seine Lesung beendet hatte, nickte er den beiden Männern zu, die als Einzige vor ihm standen. Er schlug das Kreuz über dem leeren Grab und dann über dem Sarg, und anschließend segnete er die zwei Männer, die der kleinen Toten das letzte Geleit gaben. Als Padre Antonin die Hände sinken ließ, traten von den Seiten die Friedhofsgärtner heran, die es übernommen hatten, den Sarg in die Grube abzusenken, und rafften die Seile.
Vianello machte sich als Erster auf den Weg zum Ausgang und dem jenseits gelegenen Bootssteg. Padre Antonin klappte sein Messbuch zu, hob noch einmal die Hand über den Sarg, den die Männer jetzt ins Grab hinabließen, und beschrieb eine Geste, die halb Segen, halb Abschiedsgruß war. Dann wandte auch er sich zum Gehen.
Brunetti trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Danke, Padre«, sagte er, beugte sich vor und küsste den Priester auf beide Wangen. Arm in Arm verließen sie den Friedhof und kehrten gemeinsam in die Stadt zurück.
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