Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
und schwere Regenfälle; akute Konkursängste bei der Alitalia.
Traten derlei Vorfälle wirklich mit so bestürzender Regelmäßigkeit auf, oder kramten die Zeitungen sie nur aus dem Archiv hervor und recycelten sie nach einem ereignislosen Wochenende, wenn es außer über Sport nichts zu berichten gab? Er blätterte eine Seite weiter, fand jedoch nichts Lesenswertes. Blieben bloß noch Feuilleton, Vermischtes und Sport, aber keins dieser Ressorts interessierte ihn an dem Morgen.
Sein Telefon klingelte. Er meldete sich mit Namen, und der Posten am Haupteingang erklärte, ein Priester wünsche ihn zu sprechen.
»Ein Priester?«, wiederholte Brunetti. »Si, Commissario.« »Lassen Sie sich bitte seinen Namen geben.«
»Jawohl.« Der Beamte deckte kurz die Sprechmuschel ab, dann war er wieder da. »Er sagt, er heißt Padre Antonin, Dottore.«
»Ah, dann können Sie ihn raufschicken«, antwortete Brunetti. »Zeigen Sie ihm den Weg, und ich nehme ihn oben an der Treppe in Empfang.« Padre Antonin war der Geistliche, der über dem Sarg seiner Mutter den letzten Segen gesprochen hatte. Aber er war Sergios Freund, nicht seiner, und Brunetti konnte sich nicht denken, was den Padre in die Questura führte.
Er kannte Antonin schon seit seiner und Sergios Schulzeit. Damals war Antonin Scallon ein ziemlicher Rüpel gewesen, der immer versucht hatte, den anderen Jungs, besonders den kleineren, seinen Willen aufzuzwingen und sich als ihr Anführer aufzuspielen. Wieso Sergio sich mit ihm angefreundet hatte, war Brunetti immer ein Rätsel gewesen, obwohl er merkte, dass Antonin seinen Bruder nie herumkommandierte. Nach der Mittelschule hatten die Brüder verschiedene Schulen besucht, und Brunetti hatte Antonin aus den Augen verloren. Er wusste nur, dass Scallon ein paar Jahre später ins Priesterseminar eingetreten und von dort als Missionar nach Afrika gegangen war. Während seines Aufenthalts in einem Land, dessen Namen Brunetti sich nie hatte merken können, hörte man nur einmal im Jahr von ihm, nämlich kurz vor Weihnachten, wenn er einen Rundbrief verschickte, den auch Sergio bekam und in dem Antonin begeistert von der Missionsarbeit zur Rettung armer Seelen berichtete und der stets mit der Bitte um eine Geldspende schloss. Ob Sergio dieser Bitte nachgekommen war, wusste Brunetti nicht: Er selbst hatte jedenfalls aus Prinzip jede Unterstützung verweigert.
Und dann, vor etwa vier Jahren, war Antonin plötzlich wieder in Venedig aufgetaucht, arbeitete seither als Kaplan am Ospedale Civile und lebte bei den Dominikanern in deren Mutterhaus neben SS. Giovanni e Paolo. Sergio hatte von Antonins Rückkehr erzählt, so wie er dem Bruder zuvor auch gelegentlich die Briefe aus Afrika gezeigt hatte. Darüber hinaus erwähnte Sergio den ehemaligen Schulfreund nur das eine Mal, als er sich erkundigte, ob es Brunetti recht sei, wenn der Priester zur Beerdigung käme und einen Segen spräche; eine Bitte, die Brunetti ihm nicht abschlagen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte.
Als Brunetti oben an den Treppenabsatz trat, bog der Priester gerade um die letzte Kehre. Er trug ein bodenlanges Ordenskleid, hielt den Blick gesenkt und eine Hand am Geländer. Von oben konnte Brunetti sehen, wie schütter sein Haar war, wie schmal seine Schultern. Der Priester machte ein paar Stufen vor dem Treppenabsatz halt, atmete zweimal tief durch und grüßte lächelnd, als er sah, dass man ihn beobachtete. Er war so alt wie Sergio, also zwei Jahre älter als Brunetti, doch jeder, der die drei Männer zusammen sähe, würde den Priester für den Onkel der Brüder halten. Er war nicht nur dünn, sondern regelrecht ausgezehrt, und seine Backenknochen sprangen so stark vor, dass die hohlen Wangen darunter zwei straff gespannte, dunkle Dreiecke bildeten.
Antonins Hand am Geländer griff ein Stück weit vor, und mit gesenktem Kopf, die Füße fest im Blick, erklomm er die letzten Stufen. Brunetti blieb nicht verborgen, wie er sich bei jedem Schritt am Handlauf emporzog. Oben angekommen, rang der Priester abermals nach Luft, bevor er Brunetti die Hand entgegenstreckte. Der war erleichtert, dass Antonin keine Anstalten machte, ihn zu umarmen oder ihm gar den Friedenskuss zu entbieten.
»Ich kann mich«, sagte der Priester, »offenbar nicht mehr an Treppen gewöhnen. Nach über zwanzig Jahren ohne bin ich völlig aus der Übung. Vor allem habe ich vergessen, wie anstrengend sie sind.« Die Stimme war unverändert, mit den für das Veneto typischen,
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