Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
ihre Vitamine aus dem Supermarkt beziehen mussten?
Bevor er sich weiter in diese Elendslitanei vertiefen konnte, mischte sich Paolas Stimme in seine Gedanken, und er hörte sie sagen: Wenn sie alte Weiber belauschen wolle, die der guten alten Zeit nachweinten und die ganze Welt in Scherben gehen sahen, dann würde sie sich vormittags für ein Stündchen ins Wartezimmer ihres Hausarztes setzen. Er aber möge sie, zumal in den eigenen vier Wänden, mit solchem Gejammer verschonen.
Die Erinnerung machte ihn schmunzeln. Unterdessen war er auf dem Scheitel der Brücke angelangt und nahm, bevor er auf der anderen Seite hinunterstieg, seinen Schal ab. Scharf nach links, am Ufficio Postale vorbei über die nächste Brücke, und schon stand er vor dem Ballarin, wo er sich einen caffe und eine Brioche genehmigte. Während er, von beiden Seiten eingekeilt, an der Theke lehnte, spürte er, dass die Erinnerung an Paolas Klage über seine Klagen ihn aufgeheitert hatte. Er entdeckte sein Konterfei im Spiegel hinter dem Tresen und grinste sich zu.
Brunetti zahlte und setzte, beschwingt durch das schöne Wetter, seinen Weg fort. Auf dem Campo Santa Maria Formosa knöpfte er seine Jacke auf. Kurz vor der Questura sah er Foa, den Bootsführer, der sich über den Rand seiner Barkasse beugte und den Kanal entlangspähte, in Richtung der griechischen Kirche.
»Was gibt's, Foa?«, rief Brunetti und blieb neben dem Boot stehen.
Foa drehte sich um und lächelte, als er den Rufer erkannte. »Einer von diesen verrückten tuffetti, Commissario. Der fischt hier, seit ich angelegt habe.«
Brunetti spähte kanalaufwärts bis zum Kirchturm, sah aber weit und breit nur spiegelglattes Wasser. »Wo denn?«, fragte er und lief an der Barkasse entlang bis vor zum Bug. »Da drüben ist er untergetaucht«, entgegnete Foa mit einem Handzeichen, »bei dem Baum auf der anderen Seite.« Doch Brunetti sah nur die Wasserfläche des Kanals und im Hintergrund die Brücke und den schiefen Glockenturm. »Wie lange ist er denn schon unten?«, fragte er.
»Kommt mir vor wie eine Ewigkeit, aber es dürfte nicht mal eine Minute sein, Commissario.« Foa sah Brunetti an. Dann starrten beide Männer schweigend kanalaufwärts, die Augen fest auf die Wasseroberfläche gerichtet, und warteten darauf, dass der tuffetto wieder auftauchte.
Und auf einmal war er da, emporgeschossen wie eine Plastikente in der Badewanne. Eben noch fehlte jede Spur von ihm, doch schon im nächsten Augenblick paddelte der Zwergtaucher geschmeidig dahin, umgeben von einem Strahlenkranz kleiner Wellen, die das Wasser kräuselten.
»Glauben Sie, dass ihm die Fische hier bekommen?«, fragte Foa skeptisch.
Brunetti sah hinunter in das Wasser neben dem Boot: grau, träge, undurchsichtig. »Ich nehme an, sie schaden ihm nicht mehr als uns«, antwortete er.
Brunettis Blick schweifte erneut über den Kanal, aber da war der kleine schwarze Vogel schon wieder untergetaucht. Er überließ Foa den Beobachtungsposten, begab sich in die Questura und hinauf in sein Büro.
Als er an diesem Morgen aus dem Haus gegangen war, hatte Brunetti vor allem die bevorstehende Rückkehr von Vice-Questore Giuseppe Patta beschäftigt. Sein direkter Vorgesetzter war zwei Wochen in Berlin gewesen, wo er an einer InterpolKonferenz zur Bekämpfung der Mafia teilgenommen hatte. Obwohl die Einladung ausdrücklich an Teilnehmer im Kommissarsrang gerichtet war, hatte Patta seine persönliche Teilnahme für unerlässlich gehalten. Ermöglicht wurde dieses Arrangement durch seine Sekretärin, Signorina Elettra Zorzi, die ihn mindestens zweimal täglich und meist noch öfter in Berlin anrief und seine Instruktionen zu einer Reihe laufender Ermittlungen einholte. Da Patta selbst garantiert niemals von auswärts mit der Questura telefoniert hätte, kam er auch nicht auf die Idee, dass Signorina Elettra ihn die ganze Zeit über aus einem Hotel in Abano Terme anrief, wo sie sich zwei Wochen Sauna, Fango und Massagen gönnte.
Oben in seinem Büro sah Brunetti erst die Akten auf seinem Schreibtisch durch. Dann griff er zur Zeitung und überflog die Titelseite. Von dort blätterte er weiter zu den Seiten acht und neun, wo gelegentlich auch einmal über den italienischen Tellerrand hinausgeblickt wurde. Wahlunruhen in Zentralasien mit zwölf Toten und Militär auf den Straßen; russische Geschäftsleute nebst zwei Leibwächtern in einen Hinterhalt gelockt und getötet; Schlammlawinen in Südamerika, ausgelöst durch illegale Abholzung
Weitere Kostenlose Bücher