Buch Der Sehnsucht
die Verluste, die die Zeit und der angebliche Fortschritt mit sich brachten. Dieses Gefühl gipfelt für ihn auch in der Beobachtung, dass sich inzwischen viele Worte und auch viele Werte aufgelöst haben. Die Geschichte, die er erzählt, so sagt er, sei in einer Zeit auf die Welt gekommen, „in der die Hoffnung vom Spaß abgelöst worden war, und das Verlangen vom Wellness-Bereich, der Mensch vom Verbraucher, die Sehnsucht vom fit for fun, die Existenz vom Schöner Wohnen - aber nicht bei mir." Er sei sich und seiner Sehnsucht treu geblieben - seinem „Verlangen, dass dies, was ich hatte und sah, nicht alles sein konnte". Heute sind in der Tat für nahezu jeden in der Konsumgesellschaft Genussmittel immer und überall verfügbar. Der selbstverständliche Anspruch auf Befriedigung all unserer Wünsche ist Bestandteil unserer Wirtschaft. Aber auch in unserer Konsumgesellschaft, so Stadier, lasse sich die Sehnsucht nicht totschlagen. Ein Ort, wohin sich die Sehnsucht heute verzogen habe, seien die Kontaktanzeigen. Sie seien voller Sehnsucht nach Liebe, nach Anerkannt werden, nach Gesehenwerden. Noch in der übersteigerten und komischen Selbstanpreisung - in der „Sehnsucht nach dem Rundum-Schätzchen, nach dem ganzen Paket, nach dem allinclusive" - sieht der Erzähler dieses Romans die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Arnold Stadier verklärt seine Figuren nicht, sondern zeigt sie auch mit ihren komischen und traurigen Seiten. Er, der Theologie studiert hat, ha t einmal gesagt, dass er sich auch als Dichter theologisch verhalte: Denn er gehe barmherzig mit den Figuren seiner Romane um. Wer barmherzig ist, muss nichts verurteilen. Aber auch nichts verklären. Weder die abhanden gekommene noch die fehlgeleitete Sehnsucht.
HEIMATSUCHE
Wo finden wir Heimat? Und wann suchen wir sie? Die Erfahrung zeigt: Heimatgefühle tauchen am intensivsten dann auf, wenn man sich aus der Heimat entfernt hat. „Wenn man anfängt, über Heimat nachzudenken, ist man innerlich schon weit weg", das hat der Filmregisseur Edgar Reitz gesagt, der eine berühmt gewordene Filmserie über den Hunsrück gedreht hat - über Land und Leute, deren „kleine Welt" er als junger Mensch schon in Richtung Großstadt verlassen hat. In diesem Filmepos wurde Heimat als der Ort ins Bild gesetzt, woher man kommt, den man hinter sich gelassen hat, an den man aber auch wieder zurückkehren mag. Sein Film war eine Ehrenrettung des Begriffs Heimat, ein Wort, das für viele lange Zeit einen Blut und-Boden-Beigeschmack hatte. Der Popsänger Herbert Grönemeyer versteht die Heimat dagegen nicht mehr als einen bestimmten geographischen Ort. In einem seiner Lieder singt er: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl." Es ist das Gefühl, ganz und gar angenommen zu sein, zu Hause zu sein, sich ausruhen zu können, sein zu dürfen, wie man ist. „Heimat sind die Menschen, die wir verstehen und die uns verstehen." So hat es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch erfahren. Heimat ist dort, wo ich die Menschen finde, die ich verstehe und vo n denen ich mich verstanden fühle. Heimat hat immer etwas mit den Erfahrungen der Kindheit zu tun. Dort musste man nichts leisten. Dort war man einfach willkommen. Viele sehnen sich nach der Heimat zurück, die sie als Kind erlebt haben. Doch wenn sie die Stadt ihrer Kindheit besuchen, merken sie bald, dass sie nicht mehr ihre Heimat ist. Auch das Elternhaus bietet ihnen oft nicht mehr eine Heimat. „Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt." Nur wenn ich mit dem Geheimnis in Berührung komme, das meine Kindheit geprägt hat, werde ich mich daheim fühlen. Geheim ist ursprünglich das, was zum Zuhause gehört, was mir vertraut ist. Daheim sein braucht das Geheimnisvolle, das mir nicht nur vertraut ist, sondern das mich umgibt wie etwas, das ich nicht benennen kann, das mich aber in einen Bereich führt, der meiner Seele vertraut ist, in dem meine Seele weit wird. Die Heimat ist aber nicht nur der Ort, an dem wir unsere Kindheit verlebt haben. Sie weist auch in die Zukunft, auf die Heimat, die uns erwartet. Letztlich gilt, was Paulus den Philippern schreibt: „Unsere Heimat ist im Himmel" (Philipperbrief 3,20). Diese Einsicht umgreift das ganze Leben.
Der Schriftsteller Heinrich Jung-Stilling sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Heimat, aus der wir kommen, und derjenigen, auf die wir zugehen: „Die beiden schönsten Dinge sind die Heimat, aus der wir stammen, und die Heimat, nach der
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