Buch Der Sehnsucht
kann, wenn er möchte, um seinen tiefsten Durst zu stillen. Und er sehnt sich danach, sein Leben in die Hand zu bekommen. Doch diese Sehnsucht - so meint Camus - wird nie erfüllt. Nur im flüchtigen Moment des Todes erfüllt sie sich für einen Augenblick: „Dort vollendet sich alles. Um einmal auf der Welt zu sein, muss man für immer das Sein aufgeben." Was der atheistische Philosoph Albert Camus hier erkannt hat, hat Jesus zweitausend Jahre vorher gesagt. Aber Jesus vertröstet uns nicht darauf, dass unsere Sehnsucht erst dann erfüllt wird, wenn wir sterben. Für Jesus sind wir schon jetzt der Welt gestorben. Wenn wir an ihn glauben, sind wir jetzt schon „aus dem Tod ins Leben hinübergegangen" (Johannesevangelium 5,24). Wenn wir unsere Identifikation mit der Welt aufgeben - und das meint: der Welt zu sterben -, dann können wir jetzt schon etwas von der Fülle erahnen, nach der wir uns sehnen. Aber wir können diese Fülle nicht festhalten. Sie ist da im Augenblick, in dem wir uns ganz vergessen, in dem wir uns ganz einlassen auf das, was sich uns darbietet. Dieses Sich- Einlassen ohne Nebenabsichten meint Jesus mit „Sterben". Nur wer sich in dieses Sterben einübt, wird immer wieder Augenblicke erleben, in denen seine Sehnsucht erfüllt wird - jetzt schon. Aber sie wird nicht endgültig erfüllt. Diese vorläufige Erfüllung weckt in uns vielmehr die Sehnsucht auf die Endgültigkeit, die kommen wird, wenn wir uns für immer in Gottes Hände fallen lassen und nicht mehr an uns selbst festhalten.
VERLERNTE WÜNSCHE
Auch mit unserem Lebensalter, und nicht nur mit den veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, wandeln sich unsere Sehnsüchte. Ernst Bloch, der wie wenige andere dieses Thema durchdacht hat, hat sich auch mit der Sehnsucht alter Menschen befasst und eine ganz bestimme Form beschrieben: „Ein letzter Wunsch geht durch alle Wünsche des Alters hindurch, ein oft nicht unbedenklicher, der nach Ruhe." Es ist tatsächlich oft nicht die innere Ruhe, das Im- Einklang-Sein mit sich selbst, wonach sich alte Menschen sehnen, sondern Ruhe als Bequemlichkeit. Man will sich nicht stören lassen.
Deshalb wagt man nichts Neues mehr. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Alte Menschen möchten nicht mehr in einem fremden Bett übernachten. Sie brauchen das Vertraute. Die Wünsche der Jugend hat man aufgegeben. Damals wurden sie nicht erfüllt. Jetzt könnte man sich manche Wunscherfüllung finanziell leisten. Doch, so Bloch: „Der Hunger danach ist grau geworden." „Wenn man selbst den Hunger nach den Wünschen verlernt hat, dann gilt nur noch das, was ist. Aber auch mit dem Gewohnten ist man oft nicht zufrieden. Man richtet sich lieber in dem Alten ein, mit dem man unzufrieden ist, als sich auf Neues einzulassen. Es könnte ja noch schlimmer kommen. Es macht den unzufriedenen Alten nur noch mürrischer, sich mit Neuem auseinander setzen zu müssen. Doch es gibt auch den weisen Alten. Bei ihm haben sich die Sehnsüchte gewandelt. Er sehnt sich nach Stille, nach einer inneren Ruhe, in der er offen wird für das Geheimnis des Seins.
C. G. Jung schrieb einem Bittsteller, der unbedingt mit ihm reden wollte, dass sein Mitteilungsbedürfnis von Tag zu Tag schwinde: „Das Reden wird mir öfters zur Qual, und ich brauche oft ein mehrtägiges Schweigen, um mich von der Futilität der Wörter zu erholen. Ich bin auf dem Abmarsch begriffen und schaue nur zurück, wenn es nicht anders zu machen ist. Diese Abreise ist an sich schon ein großes Abenteuer, aber keines, über das man ausführlich reden möchte." In diesen Worten wird deutlich: C. G. Jung lehnt das Gespräch nicht aus Angst vor dem Neuen ab, sondern weil er sich nach etwas anderem sehnt: dem Geheimnis des Lebens nachzuspüren, das ihm gerade jetzt, da er seinem Sterben nahe ist, von neuem aufgeht. Er sehnt sich danach, im Schweigen offen zu werden für den Gott, der ihm seine tiefste Sehnsucht stillt.
ZWISCHEN GIER UND FREIHEIT
Geld verbindet sich für viele mit der Sehnsucht nach Freiheit, nach der Möglichkeit, über Dinge verfügen zu können, Einfluss zu haben. Es scheint das effektivste Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Wer Geld hat, kann sich etwas leisten, der „ist wer". Das wünschen sich viele Menschen. Geldgier - also die Fixierung auf dieses Mittel - ist die Suchtvariante dieses Wunsches. Wer nur auf das Geld schaut und nur für den eigenen Reichtum lebt, wird letztlich unfrei und grenzt sich ab - und sei es
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