Buch des Flüsterns
Großvater nach wie vor auf die Stirn traten. Dann Tante Armenuhi und Onkel Sahag mit Yusufs Gesicht, auf dessen Schulter sich ein schwarzer Vogel aus der Familie der Rabenvögel niedergelassen hatte, einer jener Vögel, die lange leben und beharrlich daran erinnern, dass uns die Erinnerungen überleben werden. Im zweiten Halbkreis standen die Mitglieder der Kirchengemeinde, die Nachbarn und andere Leute, die wir nicht kannten, sie hatten sich in den Leichenzug eingereiht, wollten, eben weil sich in ihrem eigenen Leben nichts ereignete, Zeugen dieses Geschehens sein, das der Tod war. Hinter uns hatte sich der feine Nebel herabgesenkt, aber nicht bis auf die novemberlich gefrorenen Grasspitzen, er begann etwa in der Höhe eines erwachsenen Menschen, denn im Unterschied zu uns, die wir ihn nicht sahen, konnte dieser Nebel die neuen Toten sehen, die in einem weiteren Kreis das Grab umstanden, und hatte sich auf ihre Schultern gelegt. Was wir jedoch in Augenhöhe sehen konnten, war ebenfalls eine Art Dunst, aber der war rötlicher, denn von den neuen Toten sahen wir nur die Wunden, die sich noch nicht geschlossen hatten.
Dann traten wir an den Sarg und küssten, bevor der Sarg geschlossen wurde, die Stirn des Toten. Ich hatte die Augen geschlossen und ließ mich von Vater führen. Weil Großmutter die Schweißtropfen nicht so schnell abtrocknen konnte, wie sie wieder auftraten, kam mir die kalte und feuchte Stirn wie ein Baumstamm vor, und ich behielt einen salzigen Geschmack, wie Meerwasserspritzer, auf den Lippen. In gewisser Weise mochte dies eine ausgemachte Sache gewesen sein, der Tod wünschte sich Großvater lebendig. Bevor der Sarg geschlossen wurde, legte Sahag Șeitanian neben die Ikone, die man dem Toten unter die über der Brust gefalteten Hände geschoben hatte, damit sie ihn nun, da er sich nicht mehr selber zur Wehr setzen konnte, vor dem Teufel beschütze, das Heft mit den harten Deckeln, in dem die Geschichte der Operation »Nemesis« ebenso niedergelegt war wie der Galopp der Holzpferdchen, und während der Archimandrit das
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sprach, wiederholte er die geflüsterten Worte, die Großvater befreit hatten: Es ist vorbei, endlich ist es vorbei ...
Doch ebenso wie das
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so lange nicht abgeschlossen sein wird, wie es Angst auf der Welt gibt, besaßen auch Großvaters geflüsterte Worte nicht die Macht endgültiger Verfügungen. In diesem Fall hatte sich mein weiser Großvater geirrt. Es war noch nicht vorbei. Fünf Jahre später sollte ein beinahe achtzigjähriger Armenier namens Kurken Yanikian, der somit zur gleichen Zeit geboren worden war wie das
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, im Hotel Baltimore in Los Angeles mit zwei Pistolenschüssen den türkischen Konsul und seinen Sekretär erschießen. Und damit dieses Jahrhundert, das zwanzigste nach Christus, nicht nur ein Jahrhundert der Verwunderungen und Verirrungen, sondern auch des Absurden bleibe, kehrt mit dem
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auch das Jahrhundert – wie die Schlange, die sich im Bestreben, einen perfekten Kreis zu bilden, selber vom Schwanz her zu verschlingen beginnt – nach Trapezunt zurück. Dort sollte genau hundert Jahre nach Misak Torlakians Geburt in einer türkischen Familie ein Knabe geboren werden, der, im Namen des Hasses erzogen, noch als Jugendlicher am 14. Februar 2007 den armenischen Journalisten Hrant Dink umbringen wird.
Nachdem die Erdschollen auf den ins Grab hinabgelassenen Sarg geworfen worden waren, verließen wir den Friedhof, wir auf unsere Weise, Großvater auf seine Weise und die Vögel auf ihre. Nur die Nebelschwaden blieben, ganze Konvois durchscheinender Gestalten, sie schritten langsam, unnatürlich, wie ein verirrter Traum; so viele ungelebte Leben, die Kinder und Enkel in ein Nichtleben hineingebaren, und ihre irdischen Begleiter, die Helden dieses Buches sowie anderer Bücher, die noch geschrieben werden, in einen feinen Nebel der neuen und bis ans Ende der Tage nicht genannten Toten einhüllten, eine bittersüße Melancholie, wie Luft, durch die noch nie ein Vogel geflogen ist.
DANKSAGUNG
Zuerst all jenen, die mit Schriften, Studien und Forschungsarbeiten sowie durch ihre öffentliche Haltung und ihre Überzeugung dazu beigetragen haben, die in diesem Buch dargestellten Themen zu enthüllen, ihre Aktualität und – dies vor allem – ihren unversöhnten Anteil an der Geschichte als Herausforderung zu bewahren.
Denen, die das Manuskript gelesen und nützliche Empfehlungen beigesteuert haben:
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