Buch des Flüsterns
Kopfbedeckungen abnahmen, das Kreuz schlugen und uns betrachteten. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir bloß ein paar Dutzend Personen, eher ein spärliches Grüppchen denn ein Leichenzug im wahrsten Sinne des Wortes, niemals werden es mehr so viele sein wie bei der Beisetzung des Schreins, der Versammlung der Überraschungen des morgigen Tages.
Jetzt, da ich das
Buch des Flüsterns
schreibe, verstehe ich, dass mein kindlicher Gang hinter dem langsam mit dem Sarg voranfahrenden Laster nicht an der Câmpineanca-Schranke, wo auf einem nach rechts abbiegenden Weg der armenische Friedhof begann, zum Stehen kam. Mit kleinen Schritten ging ich weiter in meinem karierten Mantel, den ich, wie es damals üblich war, von meinem größeren Bruder geerbt hatte; meine Arme und Beine sind länger geworden, und der Mantel ist klein geblieben, wie eine Anzugjacke, die kaum noch über der Brust zu schließen war, ich wuchs, war ein Jugendlicher, erbte die länglichen und verschatteten Augen meines Geschlechts. Als Großmutter Arșaluis, Tante Armenuhi, Onkel Sahag Șeitanian, dann Großvater Setrak Melichian und Großmutter Sofia erschöpft aufgegeben hatten, luden wir auch sie auf den Laster, damit sie sich auf dem bunten Teppich ausruhten. Mein Leben bestand zu der Zeit größtenteils aus jenem wiederholten Gang hinter jemandem her, der zu erschöpft war, und dabei habe ich zu verstehen begonnen, dass es, wie einsam ich mich auch immer fühlen mochte, die Einsamkeit des Leichenzuges gab. Ich trat nicht aus der Reihe, war der Nächste, auch konnte ich mich nicht beeilen, denn Tote kann man nicht überholen.
Auch sie selbst konnten sich nicht beeilen. Verlegen die einen, aus ihren Gedanken gerissen die anderen, hielten wir vor der herabsinkenden Bahnschranke. Großvater war ein geduldiger Mensch, ich habe ihn niemals in Eile gesehen. Das einzige Mal, da wir von meinem Großvater sagen können, er sei gerannt, war am Weihnachtstag des Jahres 1944, als er, die Kiste mit den Schuhen in der Hand, in seinem Rücken und neben dem mit einer Plane bedeckten Lastkraftwagen, der meine Onkel Hovnanian und andere nach Sibirien brachte, das Klacken des durchladenden Gewehrs hörte, dessen Lauf auf ihn gerichtet war. Ich habe ihn oftmals reglos dasitzen, aber niemals seine Zeit vertrödeln oder sinnlos warten gesehen. Vielleicht hatte das Warten vor der herabgelassenen Bahnschranke seinen eigenen Sinn; alles war vor dem rot-weiß angestrichenen Balken, an dessen Mitte eine Laterne baumelte, zum Stehen gekommen: der Laster, die Himmel und Erde ineinandermengenden Rauchschwaden, wir und die Vögel. Der Zug nach Bukarest kam langsam vom Bahnhof her angerollt und hielt einen Augenblick in Höhe des Weges; der gleiche Zug, der in unseren Erzählungen so viele Personen transportiert hatte, sie zeigten sich, schauten durch die Fenster, mein Onkel Sahag Șeitanian, der mit den Jutesäcken unter dem Arm während der Hungerszeit nach Bukarest fährt, um sie in Craiova mit Weizen zu füllen, oder wie er mit Micael Noradunghians Karten heimkehrt, Harutiun Fringhian in seinem abgeschabten Mantel über dem schweißstarren Smoking, der seine Quersäcke mit Nüssen schleppt, Misak Torlakian, das Holzpferdchen in der Tasche, Onkel Simon auf dem Weg zum Hafen und von dort weiter über das Meer, und so viele andere, die auf Reisen gehen, sich verabschieden oder stehen bleiben, um Großvater zu rufen, er möge einsteigen. Vielleicht ist genau dies geschehen, die Lokomotive pfiff plötzlich fröhlich und entfernte sich mit ihren Waggons, die Rauchschwaden vermengten sich mit dem Dampf der Lokomotive, ebenso die Vögel, der Leichenzug ging wieder los, der Laster fuhr holpernd über die Schienen, der Sarg machte einen lebendigen Hüpfer, und danach vollzog sich alles ordnungsgemäß. Der junge Archimandrit Zareh Baronian betete mit seiner schönen Stimme, Arșag, der Glöckner, begleitete ihn und schaute verschreckt zu den Vögeln hin, denn er wusste nicht recht, ob sie für Großvater Garabet oder für ihn herbeigeflogen waren, letztlich aber zeigte es sich, dass sie für den einen wie für den anderen gekommen waren.
Die Familienmitglieder standen am offenen Grab, Vater hielt uns Kinder an der Hand, und wir hatten die Blicke gesenkt, schauten, von unserer Neugierde erschreckt, die uns nach vorne und dem Tod ins Antlitz zu blicken verlockte, auf unsere Schuhspitzen. Großmutter Arșaluis trat hin und wieder an den Sarg und wischte die Schweißtropfen ab, die
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