Buch des Flüsterns
Jiliște geschickt. Blut rinnt langsamer als die Zeit. Deshalb verändern sich Gewohnheiten nicht so leicht. Ein anderer Straßenname ein paar Ecken weiter erwies sich als sehr viel einfallsreicher: Straße der Revolution. Nach 1989 blieb dieser Name unverändert. Jeder dachte an die Revolution, die ihm genehm war.
Wenn es regnete, entstanden kleine Bäche auf unserer Straße, die ineinanderflossen. Ich hatte das Wort vernommen, das jene Rinnsale benannte; bei großer Hitze zerfielen all diese Unebenheiten zu pulverfeinem Staub. Die Rinnsale hießen Spurrinnen. Nussschalen waren die Schiffe auf den schnellen Bächen dieser Rinnen. Ich knetete teigwarmen Schlamm in die Nussschalen und steckte Truthahnfedern als Segelersatz hinein.
Selten nur fuhren Autos vorbei. Aber es gab Pferdewagen mit Aluminiumkannen voller Milch. Um die Ecke war die Sammel- und Verarbeitungsstelle für Milch. Die Fuhrwerke standen hintereinander aufgereiht, jedes mit seinen Milchkannen. Wir hängten uns hinten an die Wagenschragen und fuhren so eine Weile mit. Manch ein verdrießlicher Kutscher, vielleicht war er beim Milchverkauf nicht auf seine Kosten gekommen, brannte uns einen Peitschenhieb auf den Rücken. Wir ließen vom Wagen ab, und er trieb seine Pferde an.
Zu jener Zeit gab es keine Wohnblocks in der Stadt, und Häuser, die ein Stockwerk hatten, konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Häuser mit Stockwerk und Mansarde waren die früheren jüdischen Geschäfte in der Hauptstraße. Beim Erdbeben von 1940 waren die oberen Stockwerke eingestürzt, und die Geschäftsräume bucklig und krumm geworden und hatten sich ineinandergeschoben.
Die Menschen in unserem Viertel waren arm. Auch wir hatten kaum etwas, dessen wir uns hätten rühmen können, nur waren meine Eltern Studierte, Ingenieure. Zeitungen kamen selten, die Nachrichten erfuhr man in den Wochenschauen im Kino oder vom Lautsprecher, einem gelben Kasten, der von der Wand herab Nachrichten, Volksmusik und patriotische Chöre knatterte. Als Frau Maria, die Nachbarin von vis-à-vis, sich einen Fernseher kaufte, war dies in unserer Straße ein großes Ereignis. Der Fernseher, Marke Rubin, war wie fast alle Gegenstände zu jener Zeit ein russisches Produkt. Sein Bildschirm war so groß wie ein Teller. An warmen Abenden stellte Frau Maria ihn in den Hof, und alle kamen mit ihrem Stuhl von zuhause. Ich schlief auf meinem Stuhl bald ein, aber ich empfand den Stolz der Erwachsenen. Was ich zur Gänze und ohne dabei einzuschlafen sehen konnte, waren die Begräbnisse, denn die wurden mittags übertragen. Das von Leontin Sălăjan, dem Armeeminister, und das von Gheorghe Gheorghiu-Dej. Stundenlang verfolgte die Vorstadt den Leichenzug, doch eher neugierig denn schmerzerfüllt, man trank Schnaps und kommentierte das Geschehen wie beim Fußball. Solche Beerdigungen gab es nach dem Geschmack meines Großvaters Garabet und vor allem dem seines Cousins Sahag Șeitanian zu selten. Ansonsten geschah in unserer Vorstadt so gut wie gar nichts.
Mittlerweile sind die Feuer verschwunden. Sie haben sich leise summend in die elektrischen Leitungen zurückgezogen, sich in den Wänden versteckt, in den Boden eingegraben. Aber in meiner Kindheit waren überall Feuer zu sehen. Die verspielte Flamme der Kerze oder die gemächliche Flamme der Gaslampe. Das rötliche Glosen der Glut im Ofen. Das Feuer unter dem Kessel, in dem das Pflaumenmus blubberte. Und jenes unter dem schwarzen Kessel, in dem das Pech für die Dachpappe geschmolzen wurde oder das Fett für die Kernseife zum Waschen. Die rauchenden und rußenden Flammen der trockenen Blätter im Frühling. Die Nächte waren damals länger und reicher, es gab weniger Licht und lebendigere Schatten. Im Spiel der Schatten an den Wänden kamen einem viele Phantasmen als wirklich vor. Das Feuer war ein lebendiges Wesen, es saß neben uns am Tisch, legte sich mit seinen Schatten auf unsere Schultern, zog unsere Gesichter in die Länge und vertiefte die Blicke. Viele Geschichten von jenen beweglichen Wänden erzählten sich von alleine weiter und wiederholten sich, wenn ich sie einmal gehört hatte. Deshalb war meine Kindheit unbefangener und reicher. Selbst den Toten ging es so besser.
Andere Begleiter meiner Kindheit waren die Gerüche. Von allen Sinnen wird der Geruch am stärksten vom Gedächtnis beladen. Es genügt schon, dass man eine Tür öffnet, durch die ein Familienduft weht, und sämtliche Geschehnisse, die sich damit verbinden, fallen einem
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