Buch des Flüsterns
Dinge, sondern im Flüsterton, was, wie wir sehen werden, dramatische Folgen haben sollte: Es ist vorbei ... Endlich ist es vorbei ...
Er blieb reglos sitzen, der Rücken gerade und die Handflächen auf die Knie gestützt, bemüht, die Augen offen zu halten, genau so wie seine Verwandtschaft aus Afion Karahisar oder die anderen, von den Frauen und ihren Kindern umringten Familienoberhäupter auf den Fotos, die kurz vor 1915 angefertigt worden waren, als die Armenier in den anatolischen Weiten, anscheinend im Vorgefühl dessen, was geschehen sollte, beschlossen hatten, sich nun, solange sie noch alle lebten, fotografieren zu lassen. Wären aufgrund einer neuen Ordnung die Personen auf den Fotos mit dem Tod der Abgebildeten davon verschwunden, so hätten diese Fotos schon nach einem oder zwei Jahren seltsam ausgesehen, mit leeren Stühlen, senkrecht stehenden, von niemandem festgehaltenen Wanderstäben, Kindern auf den Schößen nicht vorhandener Mütter, oder mit Müttern, die Arme vor der Brust vereint haltend, die jedoch nichts mehr darin festhielten – Fiktionen irgendwelcher Exorzisten, aufgebrochen, ein Volk von Gespenstern zu suchen. Großmutter Arșaluis und ihre Schwester Armenuhi, Sahags Frau, schauten erschrocken hinter den Küchenvorhängen hervor. Wir, die wir nichts verstanden und meinten, das alles sei nur ein Spiel, mit dem einzigen Unterschied zwischen den Spielen, dass bei den einen derjenige gewinnt, der übrig bleibt, während beim anderen die gewinnen, die abhauen; wir Kinder also schauten hinter den Stämmen der Apfelbäume im hinteren Garten hervor. Großvater Garabet aber beachtete keinen von uns, er schaute stur geradeaus, als wartete er auf das Zeichen des Fotografen, den nur er allein sah, und der ihn fotografieren oder aber ihm das Zeichen geben würde, wann er aus dem Foto verschwinden solle. Er blieb eine Weile so sitzen, Onkel Sahag saß ihm ratlos gegenüber und wartete, dass die anderen, die neuen Toten, sich rechts und links von ihm niedersetzten. Bis sich in unserem Hof das Gruppenbild zusammengefügt hatte, auf dem die Köpfe mit der Entfernung kleiner wurden. Dann, als sich alle eingefunden hatten, erhob der Fotograf den Arm und ließ ihn blitzartig fallen, während das erhitzte Pulver auf der runden Platte aufblitzte. In diesem Augenblick begann Großvaters Vorbereitung auf den Tod. Er stand unsicher auf, jedenfalls stellte es sich uns so dar, aber vielleicht ging er auch gerade und hatte schon vergessen, im Rhythmus mit der Welt zu schwanken. Er ging in sein Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Die Frauen atmeten erleichtert auf, dachten, es handle sich wieder einmal um einen seiner Rückzüge ins Alleinsein, warteten geduldig, dass er sich bis zum Einbruch des Abends wieder erhole. Aber sie warteten, und es wurde Nacht, sie hatten sogar vergessen, uns schlafen zu schicken, sodass wir alle vor Großvaters Tür standen, die er nicht zugesperrt hatte, aber wir scheuten uns, sie zu öffnen, denn drinnen war eine Art Klagegesang zu hören, ununterbrochen wie das Murmeln der Deportiertenlager von Deir-ez-Zor, jemandes Flüstern, das nicht aufhört, einzuatmen, und dabei scheinbar den Wunsch verspürt, sich des Lebens in dieser atmenden Brust zu entledigen. Es war ein Klagegesang ohne Traurigkeit, wie ein mittelalterlicher
Scharakan
oder ein buddhistischer Gesang, ein Generalbass aus tiefster Brust, der den Tod, der für die Angehörigen meiner Großeltern viel zu oft unerwartet gekommen war, herbeirief, nun möge er gütig sein und kommen, wenn er gerufen wurde. Am Morgen war der Klagegesang, der seiner Brust entsprungen war, nicht mehr zu hören, und plötzlich füllte sich unser Hof mit Vögeln.
Der Erste, der es wagte, die Tür zu öffnen und über die Schwelle zu treten, war Onkel Sahag. Großvater hatte sich ins Bett gelegt, er lebte noch, drehte den Kopf zu ihnen und schaute sie an. Seine Stirn war von Schweißtropfen übersät, und Großmutter wischte ihm die Schläfen mit dem Zipfel ihres langen Rockes ab. Er antwortete nicht auf ihre Fragen; es ist vorbei, sagte Sahag Șeitanian an seiner Stelle, endlich ist es vorbei, aber er konnte ihnen nichts mehr über die Holzpferdchen sagen und vor allem nichts über das letzte, das weiße Pferdchen, das besagte, dass das Blut, das ihm unter dem Sattel hervorquoll und vom Halfter tropfte, nicht länger mehr fremdes Blut war, dass diejenigen, denen Gottes Wille die Untaten auf der Welt nachgesehen hatte, dem Urteil der Menschen
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