Bucheckern
Brummen eines Traktormotors konnte der Kommissar ausmachen. Er erinnerte sich an die ersten Ermittlungstage nach dem Auffinden der Leiche: Seine Mitarbeiter und er hatten bei der Spurensuche nichts unversucht gelassen. Waldarbeiter und Forstpersonal wurden intensiv befragt, Plakate und Handzettel in den Orten der Umgebung verteilt. Die Zeitungen brachten mehrfach Artikel mit Bildern auf der ersten Lokalseite und im überregionalen Teil. In mehreren Radiosendern und selbst in den Landesnachrichten des Fernsehens wurde einige Male berichtet, um Hinweise aus der Bevölkerung zu bekommen.
„Jogger, Radfahrer, Reiter, Pilzsucher, Hundebesitzer“, hatte Paul Wellmann damals in einer Besprechung gesagt, „der Wald ist hier im Ballungsraum doch voll von Menschen. Ja selbst mitten in der Nacht sind noch Läufer mit Stirnlampen unterwegs, da wird doch wenigstens einer etwas gesehen haben, das uns weiterbringt.“
Ein paar dürftige Hinweise kamen, erwiesen sich aber ausnahmslos als falsche Fährten.
Reifenspuren wurden am Fundort der Leiche zwar aufgenommen, waren wegen des sandigen Weges aber nur sehr undeutlich zu erkennen und in den zwei Wochen bis zum Auffinden des toten Jungen wahrscheinlich durch neuere Spuren verwischt worden. Lediglich ein Abdruck, etwas außerhalb des Weges, war halbwegs brauchbar. An einer feuchteren Stelle hatte sich das Profil eines Transporterreifens eingedrückt. Quer zum Verlauf des Weges, wie wenn ein Fahrzeug gewendet hätte, doch die Qualität der Spur war, wie sich die Kriminaltechnik ausdrückte: ›vier minus‹. Reifengröße und Typ konnten nur vage bestimmt werden.
Lindt ging den Sandweg ein Stück weiter, um den Platz, an dem die Leiche des Jungen gelegen hatte, genau wiederzufinden. Ganz einfach war das nicht, denn über den Sommer waren hier Brombeersträucher, Farn und hohes Gras gewachsen. Die Örtlichkeit hatte nun ein ganz verändertes Gesicht.
Lindt duckte sich und schlüpfte gebückt zwischen den buschigen Kiefern durch. Die gesuchte Stelle befand sich ungefähr fünfzehn Meter neben dem Weg. Er ging in die Knie und versuchte, unter den niedrigen Bäumen hindurchzuspähen. Das Grün der Kiefernnadeln mischte sich mit Brauntönen der Rinde und dem Gelb von dürren Gräsern am Boden. „Hier, ja genau, hier ist die Stelle“, sagte er zu sich selbst, als er halb kriechend den Fundort erreichte.
„Mist, jetzt habe ich mir die Jacke versaut“, ärgerte er sich gleich darauf über einen Harzfleck am rechten Ärmel, als sein Blick an etwas Blauem hängen blieb, das farblich nicht zu den Naturtönen der Umgebung passte. Drei Meter seitlich, neben einer Birke, die sich noch zwischen den Kiefern hatte durchschlängeln können, lag eine Zigarettenschachtel. ›Gauloises‹ – Lindt kannte die französische Marke. Er umfasste die zerknautschte leere Schachtel mit einem umgestülpten Plastikbeutel, um sie aufheben zu können, ohne mögliche Spuren oder Fingerabdrücke zu verwischen.
„Als die Leiche des Jungen gefunden wurde, hat diese Packung bestimmt noch nicht hier gelegen. Die Spurensicherung hätte sie auf jeden Fall bemerkt“, waren seine Gedanken, während er den Zipp – Verschluss der Tüte dicht machte. „Wer auch immer diese Packung verloren oder weggeworfen hat, zufällig war der bestimmt nicht hier.“
Er setzte sich neben der Birke auf den sandigen Boden. Instinktiv angelte er seine Pfeife aus der Jackentasche, steckte sie aber angesichts des trockenen Grases gleich wieder weg. Er musste innerlich über sich selbst lächeln. Das wäre wieder eine Schlagzeile in der Zeitung: „Heiße Spur gefunden: Kripo – Kommissar setzt Wald in Brand – Kiefernforst ein Raub der Flammen.“
Viel eher könnte er nach der Kritik der letzten Monate jetzt eine positive Presse brauchen. Er nahm sich vor, eine Mitteilung herauszugeben, wenn die Ergebnisse der Kriminaltechnik über die aktuellen Spuren vorlagen.
Beim flachen Sitzen auf dem Boden drückte ihm das Holster seiner Dienstpistole etwas in die Seite und so stand er wieder auf. Lindt schlängelte sich zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen hinaus auf den Weg, sorgfältig darauf achtend, nicht noch einen Harzfleck einzufangen. Er klopfte die Jacke aus und schüttelte sich noch einige Kiefernnadeln aus den Haaren, bevor er wieder in den Wagen stieg.
Auf der Rückfahrt in die Stadt sinnierte er über die gefundene Zigarettenpackung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von einem gänzlich Unbeteiligten stammen
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