Buddenbrooks
recht wenig meine Wege kreuzen wirst. Du hast meine Freundschaft während all der Jahre auf zu harte Proben gestellt« … Warum kam er jetzt? Etwas Dringendes mußte ihn treiben …
»Nun?« fragte der Konsul.
»Ich kann es nun nicht mehr«, antwortete Christian, indem er sich, Hut und Stock zwischen den mageren Knieen, seitwärts auf einen der hochlehnigen Stühle niederließ, die den Eßtisch umstanden.
{444} »Darf ich fragen, was du nun nicht mehr kannst, und was dich zu mir führt?« sagte der Konsul, der stehen blieb.
»Ich kann es nun nicht mehr«, wiederholte Christian, drehte mit fürchterlich unruhigem Ernst seinen Kopf hin und her und ließ seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen schweifen. Er zählte jetzt 33 Jahre, aber er sah weit älter aus. Sein rötlichblondes Haar war so stark gelichtet, daß fast schon die ganze Schädeldecke freilag. Über den tief eingefallenen Wangen traten die Knochen scharf hervor; dazwischen aber buckelte sich, nackt, fleischlos, hager, in ungeheurer Wölbung seine große Nase …
»Wenn es nur dies wäre«, fuhr er fort, indem er mit der Hand an seiner linken Seite hinunterstrich, ohne seinen Körper zu berühren … »Es ist kein Schmerz, es ist eine Qual, weißt du, eine beständige, unbestimmte Qual. Doktor Drögemüller in Hamburg hat mir gesagt, daß an dieser Seite alle Nerven zu kurz sind … Stelle dir vor, an der ganzen linken Seite sind alle Nerven zu kurz bei mir! Es ist so sonderbar … manchmal ist mir, als ob hier an der Seite irgend ein Krampf oder eine Lähmung stattfinden müßte, eine Lähmung für immer … Du hast keine Vorstellung … Keinen Abend schlafe ich ordentlich ein. Ich fahre auf, weil plötzlich mein Herz nicht mehr klopft und ich einen ganz entsetzlichen Schreck bekomme … Das geschieht nicht einmal, sondern zehnmal, bevor ich einschlafe. Ich weiß nicht, ob du es kennst … ich will es dir ganz genau beschreiben … Es ist …«
»Laß nur«, sagte der Konsul kalt. »Ich nehme nicht an, daß du hierher gekommen bist, um mir dies zu erzählen?«
»Nein, Thomas, wenn es nur
das
wäre; aber
das
ist es nicht allein! Es ist mit dem Geschäft … Ich kann es nun nicht mehr.«
»Du bist wieder in Unordnung?« Der Konsul fuhr nicht einmal auf, er wurde nicht mehr laut. Er fragte es ganz ruhig, während er seinen Bruder von der Seite mit einer müden Kälte ansah.
{445} »Nein, Thomas. Und um die Wahrheit zu sagen – es ist ja nun doch gleich – ich bin niemals recht in Ordnung gekommen, auch durch die Zehntausend damals nicht, wie du selbst weißt … Die waren eigentlich nur, damit ich nicht gleich zuzumachen brauchte. Die Sache ist die … Ich habe gleich darauf noch Verluste gehabt, in Kaffee … und bei dem Bankerott in Antwerpen … Das ist wahr. Aber dann habe ich eigentlich gar nichts mehr gethan und mich still verhalten. Aber man muß doch leben … und nun sind da Wechsel und andere Schulden … fünftausend Thaler … Ach, du weißt nicht, wie sehr ich herunter bin! Und zu allem diese Qual …«
»Also, du hast dich still verhalten!« schrie der Konsul außer sich. In diesem Augenblick verlor er dennoch die Fassung. »Du hast die Karre im Dreck gelassen und dich anderweitig unterhalten! Meinst du, daß ich nicht vor Augen sehe, wie du gelebt hast, im Theater und im Cirkus und in Klubs und mit minderwertigen Frauenzimmern …«
»Du meinst Aline … Ja, für diese Dinge hast du wenig Sinn, Thomas, und es ist vielleicht mein Unglück, daß ich zu viel Sinn dafür habe; denn darin hast du recht, daß es mich zu viel gekostet hat und noch immer ziemlich viel kosten wird, denn ich will dir Eines sagen … wir sind hier unter uns Brüdern … Das dritte Kind, das kleine Mädchen, das seit einem halben Jahre da ist … es ist von mir.«
»Esel.«
»Sage das nicht, Thomas. Du mußt gerecht sein, auch im Zorne, gegen sie und gegen … warum sollte es nicht von mir sein. Was aber Aline betrifft, so ist sie durchaus nicht minderwertig; so etwas darfst du nicht sagen. Es ist ihr keineswegs gleichgültig, mit wem sie lebt, und sie hat meinetwegen mit Konsul Holm gebrochen, der viel mehr Geld hat, als ich, so gut ist sie gesinnt … Nein, du hast keinen Begriff, Thomas, was für ein prachtvolles Geschöpf das ist! Sie ist so gesund … so
ge {446} sund
…!« wiederholte Christian, indem er eine Hand, ihren Rücken nach außen, mit gekrümmten Fingern vors Gesicht hielt, ähnlich wie er zu thun
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