Buddenbrooks
stopfte Hannos Strümpfchen. Die treue Preußin stand nun am Anfang der Fünfziger, aber obgleich sie sehr früh begonnen hatte, zu ergrauen, war ihr glatter Scheitel doch noch immer nicht weiß geworden, sondern in einem bestimmten Zustande der Melierung verblieben, und ihre aufrechte Gestalt war so starkknochig und rüstig, ihre braunen Augen waren so frisch, klar und unermüdlich wie vor zwanzig Jahren.
»Guten Abend, Ida, du gute Seele!« sagte Frau Permaneder gedämpft aber fröhlich, denn die kleine Erzählung ihres Bruders hatte sie in die beste Stimmung versetzt. »Wie geht es dir, du altes Möbel?«
{506} »Ei, ei, Tonychen; Möbel, mein Kindchen? So spät noch hier?«
»Ja, ich war bei meinem Bruder … in Geschäften, die keinen Aufschub duldeten … Leider hat sich die Sache zerschlagen … Schläft er?« fragte sie und wies mit dem Kinn nach dem kleinen Bette, welches an der linken Seitenwand stand, das grünverhüllte Kopfende hart an der hohen Thür, die zum Schlafzimmer Senator Buddenbrooks und seiner Gattin führte …
»Pst«, sagte Ida; »ja, er schläft.« Und Frau Permaneder trat auf den Zehenspitzen an das Bettchen, lüftete vorsichtig die Gardinen und lugte gebückt in das Gesicht ihres schlafenden Neffen.
Der kleine Johann Buddenbrook lag auf dem Rücken, hatte aber sein von dem langen, hellbraunen Haar umrahmtes Gesichtchen dem Zimmer zugewandt und atmete mit einem leichten Geräusch in das Kopfkissen hinein. Von seinen Händen, deren Finger kaum aus den viel zu langen und weiten Ärmeln seines Nachthemdes hervorsahen, lag die eine auf seiner Brust, die andere neben ihm auf der Steppdecke, und dann und wann zuckten die gekrümmten Finger leise. Auch an den halb geöffneten Lippen war eine schwache Bewegung bemerkbar, als versuchten sie, Worte zu bilden. Von Zeit zu Zeit ging, von unten nach oben, etwas Schmerzliches über dieses ganze Gesichtchen, das, mit einem Erzittern des Kinnes beginnend, sich über die Mundpartie fortpflanzte, die zarten Nüstern vibrieren ließ und die Muskeln der schmalen Stirn in Bewegung versetzte … Die langen Wimpern vermochten nicht die bläulichen Schatten zu verdecken, die in den Augenwinkeln lagerten.
»Er träumt«, sagte Frau Permaneder gerührt. Dann beugte sie sich über das Kind, küßte behutsam seine schlafwarme Wange, ordnete mit Sorgfalt die Gardine und trat wieder an den Tisch, wo Ida, im gelben Schein der Lampe, einen neuen Strumpf {507} über die Stopfkugel zog, das Loch prüfte und es zu schließen begann.
»Du stopfst, Ida. Merkwürdig, ich kenne dich eigentlich gar nicht anders!«
»Ja, ja, Tonychen … Was das Jungchen Alles zerreißt, seit er zur Schule geht!«
»Aber er ist doch ein so stilles und sanftes Kind?«
»Ja, ja … Aber doch.«
»Geht er denn gern zur Schule?«
»Nein, nein, Tonychen! Hätt' lieber noch bei mir weiter lernen wollen. Und ich hätt's auch gewünscht, mein Kindchen, denn die Herren kennen ihn ja nicht so von Klein auf, wie ich, und wissen es nicht so, wie man ihn nehmen muß beim Lernen … Das Aufmerken wird ihm oft schwer, und er wird rasch müde …«
»Der Arme! Hat er schon Schläge bekommen?«
»Aber nein! Mei boje kochhanne … sie werden doch nicht so hartherz'g sein wollen! Wenn das Jungchen sie ansieht …«
»Wie war's denn eigentlich, als er zum ersten Male hinging? Hat er geweint?«
»Ja, das hat er. Er weint so leicht … Nicht laut, aber so in sich hinein … Und dann hat er deinen Herrn Bruder am Rock festhalten wollen und immer wieder gebeten, er möchte dableiben …«
»So, hat mein Bruder ihn hingebracht? … Ja, das ist ein schwerer Moment, Ida, glaube mir. Ha, ich weiß es wie gestern! Ich heulte … ich versichere dich, ich heulte wie ein Kettenhund, es wurde mir entsetzlich schwer. Und warum? Weil ich es zu Hause so gut gehabt hatte, grade wie Hanno. Die Kinder aus vornehmen Häusern weinten Alle, das ist mir sofort aufgefallen, während die Anderen sich gar nichts daraus machten und uns anglotzten und grinsten … Gott! was ist ihm, Ida –?!«
{508} Sie vollendete ihre Handbewegung nicht und wandte sich erschrocken nach dem Bettchen um, von wo ein Schrei ihr Plaudern unterbrochen hatte, ein Angstschrei, der sich im nächsten Augenblick mit noch gequälterem, noch entsetzterem Ausdruck wiederholte und dann drei, vier, fünfmal rasch nach einander erklang … »Oh! oh! oh!« ein vor Grauen überlauter, entrüsteter und verzweifelter Protest, der sich gegen
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