Buddenbrooks
seine Eigenschaften als Arzt betrifft, so halte ich nicht grade große Stücke auf ihn, Ida, Gott verzeihe mir, wenn ich mich in ihm täusche. So zum Beispiel mit Hannos Unruhe, seinem Auffahren bei Nacht, seinen Angstanfällen im Traume … Grabow weiß es, und Alles, was er thut, ist, daß er uns sagt, was es ist, uns einen lateinischen Namen nennt: pavor nocturnus … ja, lieber Gott, das ist sehr belehrend … Nein, er ist ein lieber Mann, ein guter Hausfreund, Alles; aber ein Licht ist er nicht. Ein bedeutender Mensch sieht anders aus und zeigt schon in der Jugend, daß etwas an ihm ist. Grabow hat die Zeit von Achtundvierzig miterlebt; er war ein junger Mann damals. {511} Aber meinst du, daß er sich jemals erregt hat, – über die Freiheit und die Gerechtigkeit und den Umsturz von Privilegien und Willkür? Er ist ein Gelehrter, aber ich bin überzeugt, daß die unerhörten Bundesgesetze von damals über die Universitäten und die Presse ihn vollständig kalt gelassen haben. Er hat sich niemals ein wenig wild gebärdet, niemals ein wenig über die Schnur gehauen … Er hat immer sein langes, mildes Gesicht gehabt, und nun verordnet er Taube und Franzbrot und, wenn der Fall ernst ist, einen Eßlöffel Altheesaft … Gute Nacht, Ida … Ach nein, ich glaube, da giebt es ganz andere Ärzte! … Schade, daß ich Gerda nicht mehr sehe … Ja, danke, es ist noch Licht auf dem Korridor … Gute Nacht.«
Als Frau Permaneder im Vorübergehen die Thür zum Eßzimmer öffnete, um, ins Wohnzimmer hinein, auch ihrem Bruder Gute Nacht zuzurufen, sah sie, daß in der ganzen Flucht Licht war, und daß Thomas, die Hände auf dem Rücken, darin hin und wider ging.
4.
Allein geblieben, hatte der Senator seinen Platz am Tische wieder eingenommen, sein Pincenez hervorgezogen und in der Lektüre seiner Zeitung fortfahren wollen. Aber nach zwei Minuten schon hatten seine Augen sich von dem bedruckten Papier erhoben, und, ohne die Haltung seines Körpers zu verändern, hatte er lange Zeit geradeaus, zwischen den Portièren hindurch, unverwandt in das Dunkel des Salons geblickt.
Wie bis zur Unkenntlichkeit verändert sein Gesicht sich ausnahm, wenn er sich allein befand! Die Muskeln des Mundes und der Wangen, sonst diszipliniert und zum Gehorsam gezwungen, im Dienste einer unaufhörlichen Willensanstrengung, spannten sich ab, erschlafften; wie eine Maske fiel die längst nur noch künstlich festgehaltene Miene der Wachheit, Umsicht, Liebenswürdigkeit und Energie von diesem Gesichte {512} ab, um es in dem Zustande einer gequälten Müdigkeit zurückzulassen; die Augen mit trübem und stumpfem Ausdruck auf einen Gegenstand gerichtet, ohne ihn zu umfassen, röteten sich, begannen zu thränen – und, ohne Mut zu dem Versuche, auch sich selbst noch zu täuschen, vermochte er von allen Gedanken, die schwer, wirr und ruhelos seinen Kopf erfüllten, nur den einen, verzweifelten festzuhalten, daß Thomas Buddenbrook mit zweiundvierzig Jahren ein ermatteter Mann war.
Er strich langsam und tief aufatmend, mit der Hand über Stirn und Augen, entzündete mechanisch eine neue Cigarette, obgleich er wußte, daß es ihm schadete, und fuhr fort, durch den Rauch ins Dunkel zu blicken … Welch ein Gegensatz zwischen der leidenden Schlaffheit seiner Züge und der eleganten, beinahe martialischen Toilette, die diesem Kopfe gewidmet war – dem parfümierten, lang ausgezogenen Schnurrbart, der peinlich rasierten Glätte von Kinn und Wangen, der sorgfältigen Frisur des Haupthaares, dessen beginnende Lichtung am Wirbel nach Möglichkeit verdeckt war, das, in zwei länglichen Einbuchtungen von den zarten Schläfen zurücktretend, einen schmalen Scheitel bildete und über den Ohren nicht mehr lang und gekraust, wie einst, sondern sehr kurz gehalten war, damit man nicht sähe, daß es an dieser Stelle ergraute … Er selbst empfand ihn, diesen Gegensatz, und er wußte wohl, daß Niemandem draußen in der Stadt der Widerstreit entgehen konnte, der zwischen seiner beweglichen, elastischen Aktivität und der matten Blässe seines Gesichtes bestand.
Nicht, daß er in geringerem Maße, als ehemals, dort draußen eine wichtige und unentbehrliche Persönlichkeit gewesen wäre. Die Freunde wiederholten es, und die Neider konnten es nicht leugnen, daß Bürgermeister Doktor Langhals mit weit vernehmbarer Stimme den Ausspruch seines Vorgängers Oeverdieck bestätigt hatte: Senator Buddenbrook sei des Bürger {513} meisters rechte Hand. Daß aber
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