Buddenbrooks
Terz, möchte ich wissen? Das sind Possen. Und du tremolierst ihn auch noch. Das hast du irgendwo aufgeschnappt … Woher stammt es? ich weiß es schon. Du hast zu gut zugehört, wenn ich deiner Frau Mama gewisse Sachen vorspielen mußte … Ändere den Schluß, Kind, dann ist es ein ganz sauberes kleines Ding.«
Aber gerade auf diesen moll-Accord und diesen Schluß legte Hanno das allergrößte Gewicht, und seine Mutter amüsierte sich so sehr darüber, daß es dabei blieb. Sie nahm die Geige, spielte die Oberstimme mit und variierte dann, während Hanno den Satz ganz einfach wiederholte, den Diskant bis zum Schluß in Läufen von Zweiunddreißigsteln. Das klang ganz großartig, Hanno küßte sie vor Glück, und so trugen sie es am 15. April der Familie vor.
Die Konsulin, Frau Permaneder, Christian, Klothhilde, Herr und Frau Konsul Kröger, Herr und Frau Direktor Weinschenk, sowie die Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße und Fräulein Weichbrodt hatten zur Feier von Hannos Geburtstag um vier Uhr beim Senator und seiner Frau zu Mittag gegessen; nun saßen sie im Salon und blickten lauschend auf das Kind, das in seinem Matrosenanzug am Flügel saß, und auf die fremdartige und elegante Erscheinung Gerdas, die zuerst auf {556} der g-Saite eine prachtvolle Cantilene entwickelte und dann, mit unfehlbarer Virtuosität, eine Flut von perlenden und schäumenden Cadenzen entfesselte. Der Silberdraht am Griff ihres Bogens blitzte im Licht der Gasflammen.
Hanno, bleich vor Erregung, hatte bei Tische fast nichts essen können; aber jetzt war die Hingebung an sein Werk, das, ach, nach zwei Minuten schon wieder zu Ende sein sollte, so groß in ihm, daß er in vollständiger Entrücktheit Alles um sich her vergessen hatte. Dies kleine melodische Gebilde war mehr harmonischer als rhythmischer Natur, und ganz seltsam mutete der Gegensatz an, der zwischen den primitiven, fundamentalen und kindlichen musikalischen Mitteln und der gewichtigen, leidenschaftlichen und fast raffinierten Art bestand, in welcher diese Mittel betont und zur Geltung gebracht wurden. Mit einer schrägen und ziehenden Bewegung des Kopfes nach vorn, hob Hanno bedeutsam jeden Übergangston hervor, und, ganz vorn auf dem Sessel sitzend, suchte er durch Pedal und Verschiebung jedem neuen Accord einen empfindlichen Wert zu verleihen. In der That, wenn der kleine Hanno einen Effekt erzielte – und beschränkte sich derselbe auch ganz allein auf ihn selbst – so war der Effekt weniger empfindsamer als empfindlicher Natur. Irgend ein ganz einfacher harmonischer Kunstgriff ward durch gewichtige und verzögernde Accentuierung zu einer geheimnisvollen und preziösen Bedeutung erhoben. Irgend einem Accord, einer neuen Harmonie, einem Einsatz wurde, während Hanno die Augenbrauen emporzog und mit dem Oberkörper eine hebende, schwebende Bewegung vollführte, durch eine plötzlich eintretende, matt hallende Klanggebung eine nervös überraschende Wirkungsfähigkeit zu teil … Und nun kam der Schluß, Hannos geliebter Schluß, der an primitiver Gehobenheit dem Ganzen die Krone aufsetzte. Leise und glockenrein umperlt und umflossen von den Läufen der Violine, tremolierte pianissimo der E-moll-Accord … Er {557} wuchs, er nahm zu, er schwoll langsam, langsam an, im forte zog Hanno das dissonierende, zur Grundtonart leitende Cis herzu, und während die Stradivari wogend und klingend auch dieses Cis umrauschte, steigerte er die Dissonanz mit aller seiner Kraft bis zum fortissimo. Er verweigerte sich die Auflösung, er enthielt sie sich und den Hörern vor. Was würde sie sein, diese Auflösung, dieses entzückende und befreite Hineinsinken in H-dur? Ein Glück ohne gleichen, eine Genugthuung von überschwänglicher Süßigkeit. Der Friede! Die Seligkeit! Das Himmelreich! … Noch nicht … noch nicht! Noch einen Augenblick des Aufschubs, der Verzögerung, der Spannung, die unerträglich werden mußte, damit die Befriedigung desto köstlicher sei … Noch ein letztes, allerletztes Auskosten dieser drängenden und treibenden Sehnsucht, dieser Begierde des ganzen Wesens, dieser äußersten und krampfhaften Anspannung des Willens, der sich dennoch die Erfüllung und Erlösung noch verweigerte, weil er wußte: Das Glück ist nur ein Augenblick … Hannos Oberkörper reckte sich langsam empor, seine Augen wurden ganz groß, seine geschlossenen Lippen zitterten, mit einem stoßweisen Beben zog er die Luft durch die Nase ein … und dann war die Wonne nicht mehr
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