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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Betonung.
    Herr Ballerstedt schwoll an, er bewegte seine schwache Faust, arbeitete mit den Lippen und starrte dem jungen Heinricy mit emporgezogenen Augenbrauen ins Gesicht. Sein dunkelroter Kopf zitterte vor ringender Anstrengung, bis er schließlich ein {788} »Nun …« hervorzustoßen vermochte, womit der Bann gebrochen und das Spiel gewonnen war. »Von Ihnen ist nie eine Leistung zu erlangen«, fuhr er mit Leichtigkeit und Redegewandtheit fort, »und immer haben Sie eine Entschuldigung bei der Hand, Heinricy. Wenn Sie vorige Stunde krank waren, so hätten Sie sich doch in diesen Tagen sehr wohl über das durchgenommene Pensum unterrichten können, und wenn der erste Teil vom Zustande vor dem Kreuze und der zweite vom Kreuze selbst handelt, so könnten Sie sich am Ende an den Fingern abzählen, daß der dritte Teil den Zustand
nach
vorbesagtem Jammer betrifft. Aber es fehlt Ihnen an der rechten Hingebung, und Sie sind nicht allein ein schwacher Mensch, Sie sind auch immer bereit, Ihre Schwäche zu beschönigen und zu verteidigen. Merken Sie sich aber, daß, solange dies der Fall, an eine Erhebung und Besserung nicht zu denken ist, Heinricy. Setzen Sie sich. Wasservogel, fahren Sie fort.«
    Heinricy, dickfellig und trotzig, setzte sich mit Scharren und Knarren, raunte seinem Nachbar eine Frechheit zu und zog sein grifffestes Messer wieder hervor. Der Schüler Wasservogel stand auf, ein Junge mit entzündeten Augen, aufgestülpter Nase, abstehenden Ohren und zerkauten Fingernägeln. Er vollendete mit weichlicher Quetschstimme die »Übersicht« und fing an, von Hiob, dem Manne im Lande Uz, zu erzählen, und was sich mit ihm begeben. Er hatte das Alte Testament hinter dem Rücken seines Vordermannes aufgeschlagen, las darin mit dem Ausdruck vollendeter Unschuld und hingebender Nachdenklichkeit, starrte dann auf einen Punkt der Wand und sprach, indem er das Erschaute unter Stocken und quäkendem Husten in ein hülfloses, modernes Deutsch übersetzte … Er hatte etwas äußerst Widerliches an sich, aber Herr Ballerstedt lobte ihn sehr für alle seine Bemühungen. Der Schüler Wasservogel hatte es insofern gut im Leben, als die meisten Lehrer ihn gern und über seine Verdienste lobten, um ihm, sich selbst {789} und den Anderen zu zeigen, daß sie sich durch seine Häßlichkeit keineswegs zur Ungerechtigkeit verführen ließen …
    Und die Religionstunde nahm ihren Fortgang. Verschiedene junge Leute wurden noch aufgerufen, um sich über ihr Wissen um Hiob, den Mann im Lande Uz, auszuweisen, und Gottlieb Kaßbaum, Sohn des verunglückten Großkaufmanns Kaßbaum, erhielt trotz seiner zerrütteten Familienverhältnisse eine vorzügliche Note, weil er mit Genauigkeit feststellen konnte, daß Hiob an Vieh siebentausend Schafe, dreitausend Kameele, fünfhundert Joch Rinder, fünfhundert Esel und sehr viel Gesindes besessen habe.
    Dann durften die Bibeln aufgeschlagen werden, die meistens schon aufgeschlagen waren, und man fuhr mit Lesen fort. Kam eine Stelle, die Herrn Ballerstedt der Erläuterung bedürftig erschien, so schwoll er an, sagte »Nun …« und hielt nach den üblichen Vorbereitungen einen kleinen mit allgemeinen moralischen Betrachtungen untermischten Vortrag über den fraglichen Punkt. Kein Mensch hörte ihm zu. Friede und Schläfrigkeit herrschten im Zimmer. Die Hitze war durch die beständig arbeitende Heizung und die Gaslampen schon ziemlich stark geworden und die Luft durch diese fünfundzwanzig atmenden und dünstenden Körper schon ziemlich verdorben. Die Wärme, das gelinde Sausen der Flammen und die monotone Stimme des Vorlesenden legten sich um die gelangweilten Gehirne und lullten sie in dumpfe Traumseligkeit. Kai Graf Mölln hatte außer seiner Bibel auch die »Unbegreiflichen Ereignisse und geheimnißvollen Thaten« von Edgar Allan Poe vor sich aufgeschlagen und las darin, den Kopf in die aristokratische und nicht ganz saubere Hand gestützt. Hanno Buddenbrook saß zurückgelehnt und zusammengesunken und blickte mit schlaffem Munde und schwimmenden, heißen Augen auf das Buch Hiob, dessen Zeilen und Buchstaben zu einem schwärzlichen Gewimmel verschwammen. Manchmal, wenn {790} er sich des Gralmotives oder des Ganges zum Münster erinnerte, senkte er langsam die Lider und fühlte ein innerliches Schluchzen. Und sein Herz betete, es möchte möglich sein, daß diese gefahrlose und friedevolle Morgenstunde niemals ein Ende nähme.
    Und dennoch kam es, wie es in der Ordnung der Dinge lag, und der

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