Buddenbrooks
gar nicht zu Gesicht, und seine großmächtigen Füße, zum Beispiel, nahmen sich in den spitz zulaufenden Knöpfstiefeln ziemlich lächerlich aus. Unbegreiflicherweise war er eitel auf seine plumpen und roten Hände, die er unaufhörlich an einander rieb, in einander schlang und liebevoll prüfend betrachtete. Er pflegte seinen Kopf schräg zurückgelehnt zu tragen und mit blinzelnden Augen, gekrauster Nase und halboffenem Munde beständig ein Gesicht zu schneiden, als sei er im Begriffe, zu sagen: »Was ist denn nun schon wieder los?« … Dennoch war er zu vornehm, um nicht alle kleinen Unerlaubtheiten auf distinguierte Art zu übersehen, die sich etwa auf dem Hofe ereigneten. Er übersah, daß dieser oder jener Schüler ein Buch mit sich heruntergebracht hatte, um sich im letzten Augenblick ein wenig zu präparieren, übersah, daß seine Pensionäre, Herrn Schlemiel, dem Custos, Geld einhändigten, um sich Bäckereien ho {793} len zu lassen, daß hier eine kleine Kraftprobe zwischen zwei Tertianern in eine Prügelei ausartete, um die sich sofort ein Ring von Sachverständigen bildete, und daß dort hinten Jemand, der auf irgend eine Weise eine unkameradschaftliche, feige oder unehrenhafte Gesinnung an den Tag gelegt hatte, von seinen Klassengenossen zwangsweise zur Pumpe befördert wurde, um zu seiner Schande mit Wasser begossen zu werden …
Es war ein wackeres und ein bißchen ungehobeltes Geschlecht, die laute Menge, in der Kai und Hanno hin und wider wanderten. Herangewachsen in der Luft eines kriegerisch siegreichen und verjüngten Vaterlandes, huldigte man Sitten von rauher Männlichkeit. Man redete in einem Jargon, der zugleich salopp und schneidig war und von technischen Ausdrücken wimmelte. Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit. Wer mit emporgeklapptem Rockkragen betroffen wurde, durfte der Pumpe gewärtig sein. Wer sich aber gar auf der Straße mit einem Spazierstocke hatte sehen lassen, an dem wurde in der Turnhalle auf ebenso schimpfliche wie schmerzhafte Art eine öffentliche Züchtigung vollzogen …
Das, was Hanno und Kai mit einander sprachen, ging fremd und sonderbar in dem Stimmengewirr unter, das die kalte und feuchte Luft erfüllte. Diese Freundschaft war seit Langem in der ganzen Schule bekannt. Die Lehrer duldeten sie mit Übelwollen, weil sie Unrat und Opposition dahinter vermuteten, und die Kameraden, außer stande, ihr Wesen zu enträtseln, hatten sich gewöhnt, sie mit einem gewissen scheuen Widerwillen gelten zu lassen und diese beiden Genossen als outlaws und fremdartige Sonderlinge zu betrachten, die man sich selbst überlassen mußte … Übrigens genoß Kai Graf Mölln eines gewissen Respekts wegen der Wildheit und zügellosen Un {794} botmäßigkeit, die man an ihm kannte. Was aber Hanno Buddenbrook betraf, so konnte selbst der große Heinricy, der doch alle Welt prügelte, sich nicht entschließen, wegen Geckenhaftigkeit und Feigheit Hand an ihn zu legen, aus unbestimmter Furcht vor der Weichheit seines Haares, vor der Zartheit seiner Glieder, vor seinem trüben, scheuen und kalten Blick …
»Ich habe Angst«, sagte Hanno zu Kai, indem er an der einen Seitenwand des Hofes stehen blieb, sich gegen die Mauer lehnte und mit fröstelndem Gähnen seine Jacke fester zusammenzog … »Ich habe eine unsinnige Angst, Kai, sie thut mir überall weh im Körper. Ist nun Herr Mantelsack der Mann, vor dem man sich derartig fürchten dürfte? Sage selbst! Wenn diese widerliche Ovidstunde erst vorüber wäre! Wenn ich meinen Tadel im Klassenbuch hätte und sitzen bliebe und Alles in Ordnung wäre! Ich fürchte mich nicht
davor
, ich fürchte mich vor dem éclat, der damit verbunden ist …«
Kai verfiel in Gedanken. »Dieser Roderich Usher ist die wundervollste Figur, die je erfunden worden ist!« sagte er schnell und unvermittelt. »Ich habe eben die ganze Stunde gelesen … Wenn ich jemals eine so gute Geschichte schreiben könnte!«
Die Sache war die, daß Kai sich mit Schreiben abgab. Dies war es auch, was er heute Morgen gemeint hatte, als er sagte, er habe Besseres zu thun, als Schularbeiten zu machen, und Hanno hatte ihn wohl verstanden. Aus der Neigung zum Geschichtenerzählen, die er als kleiner Junge an den Tag gelegt hatte, hatten sich schriftstellerische Versuche entwickelt, und kürzlich hatte er eine Dichtung vollendet, ein Märchen,
Weitere Kostenlose Bücher