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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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schrill heulende Klang der Custosglocke, der durch die Korridore gellte und hallte, riß die fünfundzwanzig Gehirne aus ihrem warmen Dämmern.
    »So weit!« sagte Herr Ballerstedt und ließ sich das Klassenbuch reichen, um darin mit seinem Namenszeichen zu bescheinigen, daß er diese Stunde seines Amtes gewaltet.
    Hanno Buddenbrook schloß seine Bibel und reckte sich zitternd und mit nervösem Gähnen; als er aber die Arme senkte und die Glieder abspannte, mußte er eilig und mühsam aufatmen, um sein Herz, das einen Augenblick schwach und wankend den Dienst versagte, ein wenig in Takt zu bringen. Jetzt kam das Lateinische … Er warf einen hülfesuchenden Seitenblick zu Kai hinüber, der das Ende der Stunde gar nicht bemerkt zu haben schien und immer noch in Versunkenheit seiner Privatlektüre oblag, zog den in marmorierte Pappe gebundenen Ovid aus seiner Mappe und schlug die Verse auf, die für heute auswendig zu lernen waren … Nein, es gab keine Hoffnung, diese schwarzen Zeilen, die sich, mit Bleistiftzeichen versehen, schnurgerade und zu fünfen numeriert an einander reihten und ihn so hoffnungslos dunkel und unbekannt anstarrten, sich jetzt noch ein wenig vertraut zu machen. Er verstand kaum ihren Sinn, geschweige denn hätte er eine einzige davon aus dem Kopfe hersagen können. Und von denjenigen, die sich daran schlossen und die für heute zu präparieren waren, enträtselte er nicht ein Sätzchen.
    »Was heißt denn ›deciderant, patula Jovis arbore, glandes‹?« wandte er sich mit verzweifelter Stimme an Adolf Todten {791} haupt, der neben ihm im Klassenbuch arbeitete. »Das ist ja Alles Unsinn! Nur um Einen zu chikanieren …«
    »Wie?« sagte Todtenhaupt und fuhr fort, zu schreiben … »Die Eicheln vom Baum des Jupiter … Das ist die Eiche … Ja, ich weiß selbst nicht recht …«
    »Sage mir nur ein bißchen zu, Todtenhaupt, wenn ich darankomme!« bat Hanno und schob das Buch von sich. Dann, nachdem er mit düsterem Blick des Primus unachtsames und unverbindliches Nicken betrachtet hatte, schob er sich seitwärts aus der Bank hinaus und stand auf.
    Die Situation hatte sich verändert. Herr Ballerstedt hatte das Zimmer verlassen, und statt seiner stand jetzt am Katheder, ganz gerade und stramm, ein kleines, schwaches und ausgemergeltes Männchen mit dünnem weißen Bart, dessen rotes Hälschen aus einem engen Klappkragen hervorragte, und das mit dem einen seiner weißbehaarten Händchen seinen Cylinder, die Öffnung nach oben, vor sich hin hielt. Es führte bei den Schülern den Namen »die Spinne« und hieß in Wirklichkeit Professor Hückopp. Da ihm während dieser Pause auf dem Korridor die Aufsicht zuerteilt war, hatte es auch in den Klassenzimmern nach dem Rechten zu sehen … »Die Lampen aus! Die Vorhänge auf! Die Fenster auf!« sagte es, indem es seinem Stimmchen soviel Kommando-Kraft wie möglich gab und mit unbeholfen energischer Geste seinen Arm in der Luft bewegte, als drehe es eine Kurbel … »Und Alles hinunter, hinaus, in die frische Luft, potz tausend noch mal dazu!«
    Die Lampen verloschen, die Vorhänge flogen empor, das fahle Tageslicht erfüllte das Zimmer, und die kalte Nebelluft stürzte durch die breiten Fenster herein, während die Untersekundaner sich an Professor Hückopp vorbei zum Ausgange schoben; nur der Primus durfte hier oben bleiben.
    Hanno und Kai trafen an der Thür zusammen und gingen neben einander die komfortable Treppe hinunter und drunten {792} über die stilvollen Vorplätze. Sie schwiegen beide. Hanno sah jämmerlich elend aus, und Kai war in Gedanken. Auf dem großen Hofe angelangt, begannen sie auf und nieder zu wandern, inmitten der Menge von Kameraden verschiedenen Alters, die sich auf den feucht-roten Fliesen geräuschvoll durch einander bewegten.
    Ein noch jugendlicher Herr mit blondem Spitzbart führte hier unten die Aufsicht. Dies war der feine Oberlehrer. Er hieß Doktor Goldener und unterhielt ein Knabenpensionat, das von reichen und adeligen Gutsbesitzerssöhnen aus Holstein und Mecklenburg besucht war. Beeinflußt von den feudalen jungen Leuten, die seiner Hut empfohlen waren, pflegte er sein Äußeres in einer Weise, wie sie unter seinen Kollegen gänzlich ungebräuchlich war. Er trug buntseidene Kravatten, ein stutzerhaftes Röckchen, zartfarbene Beinkleider, die mit Strippen unter den Sohlen befestigt waren, und parfümierte Taschentücher mit farbigen Borten. Bescheidener Leute Kind wie er war, stand ihm solcher Prunk eigentlich

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