Büchners Braut: Roman (German Edition)
Füße hatte sie Sorge. Ihre Stiefel waren für eine Winterreise in die Schweiz zu dünn, aber sie fühlte am ganzen Körper keine Kälte.
Es war bereits Abenddämmerung, als sie in Kehl den Eilwagen nach Zürich bestiegen. Eine halbe Stunde hinter Kehl waren die Gespräche im Wagen verstummt. Zwei Studenten reisten mit und ein dicker Kaufmann, der seinen Schal um den Kopf legte, um nicht zu frieren. Er schlief ein und schnarchte still. Neben ihm die Tante, gegenüber Minna. Ihr Blick auf die Reisetasche im Schoß der Tante gerichtet, auf die ein matter Lichtschimmer der Laternen fiel, die rechts und links neben dem Kutscher baumelten. Ein Bukett von Rosen war auf die Tasche gestickt, auf blauem Grund. Minna versuchte zu schlafen. Wenn sie doch ihren Bruder bei sich hätte. Besonders wenn alles zu spät sein sollte. Dann stünde sie allein unter all den Fremden dort, und die Tante wäre keine wirkliche Vertraute. Und wenn alles nur Ahnung war und Georg sie mit einem Lachen begrüßte: Mein Dummchen, ich schrieb doch, dass ich keine Lust zum Sterben habe!
Mit diesem Gedanken schlief sie für eine Weile ein.
Die Nacht verging erstaunlich schnell. Nach einem kurzen und unbequemen nächtlichen Aufenthalt ging dieReise in den dämmernden Morgenstunden weiter. Aber sie waren dem Ziel noch so wenig näher gekommen. Ob durch nebelige Täler, ob über besonnte Anhöhen, das Knirschen der Räder auf den Chausseen nahm kein Ende. Den ganzen Donnerstag. Ettenheim, Freiburg, Müllheim. Dann gegen Abend die Schweizer Grenze. Ein kurzes beschwerliches Stück begann. Lörrach, Basel. Neue Mitreisende. Unverständliche Schweizer Laute, französische Sätze dazwischen.
Madame und Mademoiselle reisen bis nach Zürich?
Oui, Monsieur. Bis nach Zürich.
In dringender Angelegenheit, fügte die Tante an, und als sie von Georg Büchner, dem Docteur en philosophie, dem Professeur à l’Université de Zurich sprach, dem Verlobten von Mademoiselle, senkte Minna den Blick.
***
In der Steingasse in Zürich sah man am Dienstag einer unruhigen Nacht entgegen. Georg musste in Schulzens Wohnung bleiben, obwohl sein Zimmer auf dem gleichen Flur des Hauses lag. In seinem Krankenzimmer hielt sich außer Caroline oder Wilhelm Schulz noch mindestens ein Freund auf.
Der Arzt Dr. Zehnder, der Hausherr, hatte ihn bisher versorgt. Trotzdem waren die Schulzens erleichtert gewesen, als Büchner am Sonntag endlich zugestimmt hatte, einen zweiten Arzt hinzuzuziehen, nämlich Dr. Schönlein, den besten Arzt der Stadt und weit über Zürich hinaus bekannt. Der billigte völlig Dr. Zehnders bisherige Behandlung, und Büchner sprach noch an diesem Morgen sehr vernünftig mit Schönlein.
»Gegen Abend bekam er einen heftigen Anfall von Zittern, wobei er ganz irre sprach«, notierte Caroline in ihren Aufzeichnungen. Schon zuvor war zu merken, dass sein Geist oft nicht klar war. Mittags hatte er Caroline mit dem Namen des Freundes Schmid angeredet und lächelte ihr zu, als sie ihn berichtigte.
»Auch glaubte er zuweilen, es stände jemand in der Ecke.«
Die Delirien nahmen zu, und die Schulzens wunderten sich, »dass er oft über seine Phantasien sprach, sie selbst beurteilte, wenn man sie ihm ausgeredet hatte. Eine Phantasie, die oft wiederkehrte, war die, dass er wähnte, ausgeliefert zu werden. Er sprach viel Französisch und redete mehrere Male seine Braut an.«
Das Seltsame war, dass er schwerfällig sprach, wenn er bei sich war, im Delirium jedoch klar und flüssig. So erzählte er Caroline »eine lange zusammenhängende Geschichte; wie man ihn gestern schon vor die Stadt gebracht habe, wie er zuvor eine Rede auf dem Markte gehalten usw.«
Caroline sagte ihm, er läge ja hier in seinem Bett und habe alles geträumt. Da antwortete er völlig sicher, hob den Zeigefinger, lächelte in alter vertrauter Weise: Ja, Sie wissen, dass Professor Escher sich für mich verbürgt hat, und deshalb bin ich wieder zurückgebracht worden.
Sein Gesicht hatte sich unter dem Fieber von Tag zu Tag verändert. Die Lippen waren geschwollen, die Mimik verzerrt. Er legte die Hand wieder auf die Decke und fügte mit hochgezogenen Brauen an: Es war wegen der Schulden, wissen Sie.
Niemand wusste etwas von Schulden Büchners, und Caroline redete ihm dies zum wiederholten Mal aus.Das war nicht schwer, seine klaren Momente waren häufig, doch schnell verfiel er in andere Phantasien.
Am Mittwoch gegen zwölf Uhr kam Dr. Schönlein, und Büchner erkannte ihn nicht. Schon beim
Weitere Kostenlose Bücher