Buerger, ohne Arbeit
um eine sachkundige Regulierung zu ermöglichen. »Es ist zu spät«, argumentiert die
dazu komplementäre Verhinderungsstrategie. Nun ist die Forschung bereits so weit fortgeschritten, daß der Ausstieg aus ihr
viel schwieriger und kostspieliger erscheint als deren Fortführung. »Man kennt die Folgen erst nach der Anwendung des Wissens«,
wird abwiegelnd behauptet und, mit dem Verweis auf wirtschaftliche Vorteile bzw. Nachteile im internationalen Wettbewerb:
»Wir können es uns nicht leisten, darauf zu verzichten«, »Wir sind nicht allein«; ein kleines Ja zur Regulierung mit einem
großen Vorbehalt: vorausgesetzt, alle, aber auch alle machen mit. »Wissen reguliert sich selbst, schützt sich selbst vor Mißbrauch«;
die Fachleute wissen am besten, was zu tun oder zu unterlassen ist. »Neues Wissen veraltet schneller, als es entsteht«; angesichts
permanenter Selbstrevision der Wissensproduktion kommt jede äußere Einflußnahme ohnehin meistens zu spät: So geht es endlos
weiter. Geschickt operiert die moderne Wissenschaft mit dem oppositionellen Denk- und Regierungsstil des (liberalen) Konservatismus.
Der hat, vielleicht, Bedenken, sieht »Werte« unterspült, mit denen er sich profiliert (Unantastbarkeit des Lebens, der Natur;
Zeugung als Geschenk der Liebe, die Gottes Beistand findet); nur ist es Geist von seinem Geist, der ihm entgegentritt, und
so verordnet er sich, überwiegend – Schweigen.
|225| 6. Einesteils stehen Konservative und Liberale im angelsächsischen Raum eng beieinander, repräsentieren sie eher geistesverwandte
Spielarten als scharfe politische Kontraste. »Die Folgen zwingender Einrichtungen entsprechen der Absicht schlechterdings
nicht« 231 , die Überzeugung teilen sie, und auf ihrer Grundlage wenden sie sich gemeinsam gegen einen Staat, der zu viel »Gutes« will,
»sozialistischen« Anflügen erliegt; Ordnung und Sicherheit genügen. Anderenteils sind sie aber auch klarer voneinander geschieden.
Die Gesellschaft (als Gesellschaft der Eigentümer, der Besitzenden), löste sich in England und den Vereinigten Staaten zeitiger
als anderswo aus staatlicher Vormundschaft, so daß die öffentlich geäußerte Furcht vor dem modernen Leviathan mehr einer rhetorischen
Pflichtübung glich als begründeter Sorge entsprang. Die etablierte bürgerliche Mitte gebar ihr gemäße Zwänge, weihte Mittelmaß
und Mittelmäßigkeit als allgemein verbindliche Verhaltensnormen ein. Die bürgerliche Freiheit hatte vom Staat oftmals weniger
zu fürchten als von der moralischen und geschmacklichen Tyrannei der Mehrheit. »Daß so wenige wagen, exzentrisch zu sein,
enthüllt die hauptsächliche Gefahr unserer Zeit«, klagte John Stuart Mill 1859 und schloß sich jenem Urteil an, das Alexis
de Tocqueville ein Vierteljahrhundert zuvor über die moderne Demokratie gefällt hatte. 232 Diese waschechten Liberalen verteidigten die Freiheit des Individuums gegen Staat UND Gesellschaft gleichermaßen, wogegen
der authentische Konservative zwischen Individuum und Gesellschaft nichtstaatliche Dritte einschob, »organische« Gemeinschaften,
die den einzelnen sozial binden und erden sollten.
In Deutschland sahen sich Liberale und liberal gestimmte Konservative zur selben und noch für lange Zeit in dem Bemühen vereint,
die Gesellschaft gegenüber dem Staat zu stärken, verschrieben sie sich dem Interesse des Bürgertums als sozialer Gruppe energischer
als den Rechten und Ansprüchen des Individuums. Sie einte der Kampf gegen den Sozialismus, den konservativ verbrämten wie
den echten, |226| wobei jener sie mit der Angst vor diesem wirksam in Schranken hielt. Die Gesellschaft als moralische Zwangsanstalt zu attackieren
war unter den gegebenen Umständen kein zweckmäßiges Unterfangen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auch hier zur Trennung.
In gemeinsamer Frontstellung zum »bürokratischen« Wohlfahrtsstaat betonen kompromißlose Liberale Autonomie und Selbstbindung
des Individuums, Liberalkonservative die Einbettung der Person in stabile und verläßliche Bezugssystem, in Ehe, Familie, Vereine,
Berufsverbände.
7. Oakeshotts deutsche Brüder: nicht reich an Zahl, treten sie auch später in Erscheinung. Eine erste, vernehmbare Wortmeldung
des liberalen Konservatismus ging von Helmut Schelsky aus. Dessen
Skeptische Generation
entwarf das Bild einer durch Krieg, Dauerpropaganda und militärischen »Zusammenbruch« desillusionierten Jugend, die den
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