Buerger, ohne Arbeit
oder zur Reformerin;
England in den 1980er und 1990er Jahren, Margaret Thatcher und die Folgen.
Schon ein kleiner Auszug aus dem langen Protokoll dieser konservativen Gegenreform vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß des
»Verrats« am skeptischen Regierungsstil: Privatisierung staatlicher und kommunaler Unternehmen, Kohle, Stahl, Gas, Elektrizität,
Wasser, Eisenbahn, Fluglinien, Telekommunikation, Sozialwohnungen; Entmachtung lokaler Behörden bei der Kontrolle des Gesundheitswesens,
von Schulen, Universitäten, Gefängnissen, Justiz- und Polizeiorganen; Beschränkung der Gewerkschaftsmacht; Deregulierung des
Arbeitsmarktes vor allem durch »Reform« der Arbeitsgesetzgebung, »Reform« der Sozialleistungen; »Reform« |229| der Kriterien »zumutbarer Arbeit«, bis annähernd jede Verrichtung darunter fiel. Man muß John Gray, der dieses Protokoll geschrieben
hat, nicht durchgängig zustimmen, wenn er von der Verwandlung der Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft ohne soziales
Rückgrat spricht, von moderner Abhängigkeitskultur oder von der Gefangenschaft einer ganzen Nation in der »neoliberalen Abhängigkeitsfalle«. 236
Aber man muß sehen, daß es sich hierbei um keine bloße Verwirrung des angelsächsischen Konservatismus handelt, um kein zufälliges
Abweichen vom oppositionellen Staatsverständnis, sondern um eine gewollte Metamorphose als Teil des Versuchs, den freien Markt
zu installieren. 237 – Wieder zu installieren, müßte es eigentlich heißen, um dem epochalen Ereignis der Ersteinrichtung einer Marktgesellschaft
Rechnung zu tragen. Ein an staatlicher Gewalttätigkeit schwerlich zu übertreffender Vorgang, eine »blut- und schmutztriefende
Geburt«, eingeleitet nach der »glorreichen Revolution« von den Oraniern und vom Bürgertum vollendet; von einem Bürgertum,
das seine politische Unschuld im Sündenfall einer absichtsvoll sich selbst entstaatlichenden Staatlichkeit verlor. 238
Die neuerliche Wende im liberal-konservativen Politikstil, die Wiederkehr der »Zuversicht« trägt dasselbe Sündenmal: Alle
verfügbare Macht des Staates mobilisieren, um den staatlichen Einfluß auf die Wirtschaft langfristig und irreversibel auf
das unentbehrliche Minimum von
law and order
zu beschränken, im Zweifelsfall allein auf
order
. Mit den geheiligten Prinzipien konservativer Skepsis und Zurückhaltung verträgt sich diese Offensive in keiner Weise; um
in der Abweichung vom propagierten Ideal den Ausdruck äußerster Gradlinigkeit erblicken zu können, muß man die Lieblingsphilosophie
der Liberalkonservativen, den Pragmatismus, schon gehörig verbiegen.
2. Umgekehrt zeigte sich der angelsächsische Konservatismus auch dem Reformismus gegenüber aufgeschlossen: im Ausnahmezustand.
So verfolgten die englischen Konservativen während beider Weltkriege eine Politik der sozialen |230| Zuversicht, als Teil einer Allparteienregierung im ersten, unter eigener Führung im zweiten globalen Gemetzel. Die Ressourcen
zum Überleben, knapper als zuvor, wurden gerechter verteilt, öffentliche Einrichtungen garantierten die Versorgung aller mit
Lebensmitteln und medizinischen Leistungen. Obwohl der Pro-Kopf-Anteil an Nahrungsmitteln in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg
drastisch sank, nahmen Fälle an Unterernährung spürbar ab, solche von schwerer Unterernährung verschwanden völlig. Auch die
Sterblichkeitsrate ging deutlich zurück, sieht man von den Kriegstoten ab. Trotz langsamen Wachstums des Bruttosozialprodukts
kam es während beider Kriegsdekaden zu einem sprunghaften Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung. 239 Der Ausbau des Sozialstaats bei schwindenden Ressourcen war die angemessene Antwort auf die äußere Herausforderung; er stärkte
die innere Bindung, die Überlebens- und Widerstandskräfte der ganzen Nation. Die nachfolgenden Friedensperioden zeigen das
gegenteilige Bild: wachsende Verteilungsmassen, stärkere soziale Differenzierung. Sozial empfindsam, engagiert tritt dieser
Konservatismus nur unter Verhältnissen in Erscheinung, die niemand wünschen kann.
3. Diese Abweichung des liberalen Konservatismus nach links fand ihr Gegenstück in der McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die nach dem republikanischen Senator Joseph Raymond McCarthy benannte Staatsjagd auf
kommunistische Spione, unpatriotische Gesellen, die zuletzt in »Rosenkriege« auszuarten drohte, bedeutete eine besonders
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