Bugschuß
niemand entdeckte.
Er sah die Laufgruppe von Weitem. Sie nahm eine Kurve, die der Weg hier beschrieb, sodass er bald das Seitenprofil Stöwers im Visier haben würde. Vorausgesetzt, er bewegte sich nicht mitten im Pulk. Anscheinend fehlten heute einige, oder die Gruppe war immer so klein, und Stöwers rannte schnaubend an der Seite, trug dunkelblaue Laufkleidung.
Er streckte den Arm aus, hier hatte er mehr Platz als in der Lebensbaumhecke hinter Wientjes’ Haus. Er konnte sein Ziel besser anvisieren. Er entspannte sich bewusst, schloss kurz die Augen. Als er sie öffnete, den Blick gesenkt, sah er in zwei freundliche, rehbraune Augen. Er atmete durch.
»Hau ab!«, raunte er dem kleinen Dackel zu, der sich, ohne von ihm bemerkt worden zu sein, genähert hatte und ihn interessiert fixierte. Offenbar ein Rüde, denn jetzt hob er ein Hinterbein und setzte eine Marke.
»Na los, zieh Leine!«, wiederholte er in befehlsartigem Flüsterton. Und tatsächlich, langsam zog sich das Tier zurück, verschwand im Dickicht.
Wieder spürte er die plötzliche Aufregung und Nervosität aufkommen, wieder fühlte er den Schweiß auf der Stirn. Etwas Schweiß lief ihm ins linke Auge. Es brannte, aber er ließ sich nicht beirren, zwang sich, das Auge offen zu halten. Rennender blauer Laufanzug, schnaubend, schnaubend … ›Ich will Erfolge sehen‹, schoss es durch seinen Kopf. Jetzt. Jetzt musste er abdrücken.
Stöwers indes freute sich, dass er mittlerweile ohne Probleme mit den anderen mithielt. Am Beginn seiner Läuferkarriere – wie er selbst öfter scherzhaft sagte – war das anders gewesen. Dass er gerade in diesem Augenblick ins Visier genommen wurde, dass sich jetzt ein Zeigefinger krümmte, um in Sekundenbruchteilen den Abzug einer Korowin TK zu bedienen, dass waren Dinge, an die er nie und nimmer einen Gedanken verloren hätte. Er konzentrierte sich vielmehr darauf, die Füße ordentlich abzurollen und gleichmäßig zu atmen, damit sich die Waden nicht verkrampften und kein Seitenstechen aufkam.
Der Knall war weit hörbar.
Stöwers schrie laut auf, stürzte auf den Weg. Die Mitläufer eilten ihm zu Hilfe. Stöwers wand sich, bedeckte die Schusswunde am Bein mit einer Hand, das Blut quoll daran vorbei. Jeder schien etwas anderes zu rufen. Glücklicherweise hatte einer der Läufer ein Handy dabei und tippte schon die 110 ein.
Der Schütze bekam das nicht mehr mit. Er rannte nicht, er ging zügig, wie jemand, der noch unbedingt etwas besorgen musste oder einen wichtigen Termin hatte. Er achtete nicht auf die Geschehnisse, die sich in seinem Rücken abspielten, versuchte, unauffällig und möglichst unerkannt den Bereich zu verlassen. Kurze Zeit später, er hatte die Hauptstraße erreicht, rauschten zwei Polizeiwagen direkt an ihm vorbei, Blaulicht und Martinshorn tönten laut, doch sie nahmen keine Notiz von ihm. Er blieb stehen, gaffte. So fiel er nicht auf. Langsam ging er weiter, über Umwege. Es dauerte fast eine Stunde, bis er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss.
33
»Das war erneut tolle Amtshilfe, schnell und unbürokratisch«, bemerkte Tanja Itzenga, die, zusammen mit ihrem Kollegen Ulferts, vor dem Computer saß. Sie wühlten sich durch weitere, neue Dateien, die meisten davon gescannte Dokumente des BStU. Nach der Schilderung des Falles und der Bestätigung der Dringlichkeit durch den Staatsanwalt hatte man sich dort sehr schnell entschlossen, alles Wichtige in einer rasanten Aktion zu digitalisieren, soweit es nicht bereits entsprechend vorlag, und nach Aurich zu mailen.
»Irre, nicht?«, murmelte Itzenga.
»Ich habe so etwas vorher nie gesehen …«
»Typisch deutsch, was? Wenn schon bespitzeln und denunzieren, dann auch hundertprozentig. Hier, da ist es!« Itzenga zeigte auf ein Dokument, in dem mit einer Schreibmaschine Eintragungen gemacht waren. Oben rechts enthielt das Dokument ein Foto.
»Dietmar Stöwers alias IM Rabe.«
»Rabe? Wieso Rabe?«
»Was weiß denn ich? Ist doch wurscht im Moment. Hier, guck mal, das ist viel wichtiger, in diese Richtung haben wir bislang gar nicht gedacht!«
Ulferts las den Text quer.
»Stöwers hat nicht nur einen bespitzelt! Die Namen scheinen diejenigen von Opfern zu sein!«
»So sieht’s aus!«
»Der Lehrer für Physik und Marxismus-Leninismus!«
»Genau der. Wir wussten, dass er IM war. Wieso haben wir nicht gleich geschaltet und uns angesehen, wen er denunziert hat?«, fragte Itzenga selbstkritisch.
»Hör mal, das liegt mehr als zwei
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