Burgfrieden
ihrer Fahrt im Dunkeln gar keine besondere Eile an den Tag legen, zumal der Verfolgte in eher gemächlichem Tempo dahinfuhr. Was Jenny nur recht war, machten sich die Strapazen des Tages nun in ihren Bein- und Pomuskeln deutlich bemerkbar. Kurz vor der neuerlichen Überquerung der Talfer hatte sie das Rücklicht ganz aus den Augen verloren. Doch kaum am Fuße des Felsens, auf dem Runkelstein aufragte, angelangt, sah sie dort auch schon Lenz’ Rad achtlos an einen der dort befindlichen Bäume gelehnt. Ein wenig wunderte sie sich zwar, dass Lenz nicht die Privatstraße, die zum Schloss führte, genommen hatte, fand aber in der Überlegung, dass ihm diese wohl zu steil gewesen war, um sie mit dem Rad zu erklimmen, eine einleuchtende Erklärung.
Auf dem unwegsamen Waldweg sachte einen Fuß vor den anderen setzend, führte sie die Verfolgung fort. Vor der Burg verbarg sie sich zunächst hinter einem der Bäume, um die Lage zu sondieren – als sie plötzlich sah, wie sich ein Schatten von der Mauer löste und im Hof verschwand.
Jenny eilte dorthin, wo sie zuletzt eine Bewegung wahrgenommen hatte, konnte aber niemanden mehr sehen. Da, die Falltür zum Verlies stand offen, im Lagerraum brannte Licht. Jemand wollte durch den Geheimgang in die Burg. Jenny zweifelte keine Sekunde daran, dass es Lenz war.
Ohne zu zögern, kletterte sie die Leiter hinunter. An der Rückseite des Raumes sah sie den Gefrierschrank. Daneben, nur notdürftig von einem Plastikvorhang abgedeckt, den Geheimgang.
Erst jetzt wurde Jenny die Zweifelhaftigkeit ihres Unterfangens bewusst. Was, wenn Lenz der Dieb war? Sie konnte sich ausmalen, dass sie in dem Fall keineswegs glimpflich davonkommen würde. Es war kaum anzunehmen, dass er sich von seinen Gefühlen ihr gegenüber milde stimmen ließ. Falls er überhaupt Gefühle für sie hatte und nicht alles bloß gespielt war.
Sprosse um Sprosse stieg sie weiter hinab, ohne zu einem Entschluss zu gelangen. Immer noch mit sich hadernd, ob sie weitergehen oder lieber kehrtmachen sollte, kam sie schließlich am Leiterende an. In dem Moment ging das Licht aus. Tastend versuchte Jenny, einen Fuß auf den Boden zu setzen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. Jetzt hatte die Finsternis sie voll im Griff.
Dreizehn
Herr Walther von der Vogelweide,
wer ihn vergäße, der täte mir leid.
Hugo von Trimberg, 13. Jh.
Zwei Vespas brausten die St. Anton Straße, die von Bozen in Richtung Sarntal führt, entlang. Auf der vorderen saß Mordred Leitner, dahinter folgte Lenz Hofer mit Professor Kammelbach auf dem Soziussitz. Lenz hätte gerne ein wenig mehr Gas gegeben, gelangte jedoch rasch zur Einsicht, dass es klüger war, sich fahrtaktisch dem in Bezug auf Mopeds wesentlich routinierteren Mordred anzuvertrauen. War Lenz selbst doch seit dem Unglück mit Christa überhaupt nicht mehr motorisiert unterwegs gewesen. Zumindest nicht am Steuer, ungerne auch als Beifahrer.
War es seine Schuld, dass Jenny verschwunden war. Hätte er heute Abend mit ihr reden und sich entschuldigen sollen. Seine Bemerkung hatte er ja nicht so gemeint. Er hätte wissen müssen, dass sie müde war, ohnehin wunderte es ihn, dass sie so lange durchgehalten hatte. Die meisten hätten sicher schon früher aufgegeben, egal ob Mann oder Frau. Jenny hatte wirklich eine tolle Kondition, das gefiel ihm, und er sah ihr gerne nach, dass sie manchmal ein wenig aufbrausend war. Das gehörte halt zu ihrem Temperament. Er fragte sich bloß, was sie jetzt machte. Vielleicht war ja alles ganz harmlos. Glaubte er aber nicht. Er wollte nach dem Abendessen mit ihr reden, hatte an ihrer Zimmertür geklopft. Keine Antwort. Nachdem er die Klinke gedrückt hatte, war die Tür sofort aufgegangen. Aber keine Jenny im Zimmer. Auch nicht im Badezimmer oder auf dem Balkon. Auch sonst konnte er sie nirgends finden. Fehlten aber die Räder, beide. Da stimmte etwas nicht, ganz klar, also war er gleich zu Arthur in die Bibliothek gegangen. Als ihnen Mordred dann auch noch eröffnet hatte, dass Tina und Lukas ebenfalls verschwunden seien, waren sie zu dritt die Treppen hinunter gerannt und vor die Villa gelaufen.
Die Mopeds waren noch da. Mit denen konnten sich die Studenten also nicht aus dem Staub gemacht haben. Fragte sich nur, wer Lenz’ Rad entwendet hatte und wohin der unterwegs war. Und was Tina und Lukas, oder einer von beiden, damit zu tun hatten. Dass Jenny jemanden verfolgte, darüber waren sich alle einig. Einen anderen Grund konnte es
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