Bushido
ich dir nicht versprechen«, meinte ich. »Ich bin auch ohne ihr Wissen zu dir gefahren, also habe ich keine Ahnung, wie sie überhaupt darauf reagieren wird. Ich werde sie fragen, aber mach dir bitte keine Hoffnung.«
»Weißt du, mein Sohn, bald kann ich in Frieden sterben. Ich möchte nur noch einmal deine Mutter sehen, ihr in die Augen schauen und sagen, wie leid es mir tut, was ich unserer Familie angetan habe. Wenn ich aus ihrem Mund höre, dass sie mir vergibt, kann ich meine Reise zu Gott antreten.«
Schlagartig wurde mir klar, was am Ende eines Lebens wirklich etwas bedeutet. Es sind die Erinnerungen, die Gefühle und im besten Fall ein reines Herz. All diese materiellen Dinge bedeuten einen Scheiß. Arafat hatte meinen Vater auch gefragt, ob er Geld benötige, doch er lehnte sofort ab.
»Ich habe alles«, sagte er. »Ich brauche kein Essen, kein Trinken, keine Medikamente. Seit neun Jahren bete ich jeden Tag. Gott hat heute meine Gebete erhört. Ich brauche nichts mehr.«
Mein Vater nahm wieder meine Hand und drückte sie, so fest er konnte.
»Tue mir bitte noch einen Gefallen. Am 28. April ist ein ganz, ganz großer Tag für mich.«
»Was denn?«, unterbrach ich ihn.
»Am 28. April haben deine Mutter und ich Hochzeitstag.«
Ich merkte sofort, dass mein Vater Angst vor diesem Tag hatte. Er sprach es zwar nicht aus, aber er glaubte, dass es der letzte Hochzeitstag in seinem Leben sein würde.
»Ich liebe deine Mutter immer noch. Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Sie war ein Teil von mir und wird es für immer bleiben.«
»Mach dir keine Gedanken. Ich rede mit ihr.«
Auf einmal war ich der Vermittler zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Wer hätte das jemals für möglich gehalten? Ich bestimmt nicht. Vielleicht war es halt einfach meine Bestimmung und ich hätte überhaupt nicht anders handeln können. Okay, ich hätte meinen Vater verleugnen und damals im Auto zu Arafat sagen können: »Ari, ich sehe dich wie einen Bruder und dein Ratschlag in allen Ehren, aber mein Vater ist ein schlechter Mensch, der Unheil über meine Familie gebracht hat. Ich möchte ihm nicht vergeben.«
Ja, das hätte ich sagen können, natürlich, und niemand hätte mir daraus einen Strick gedreht, aber wenn ich ein bisschen länger darüber nachdenke, hätte ich es eben doch nicht sagen können. Das Schicksal hatte es schon bestimmt, bevor ich überhaupt davon wusste. Jeder Mensch hat zu jeder Zeit die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, und es gibt auch immer mindestens zwei Wege, um ein Problem zu lösen, aber genau diese Alternative wäre für mich niemals in Frage gekommen.
Ich gab Arafat ein Zeichen, dass ich langsam aufbrechen wollte und er fand wie immer die richtigen Worte. Wir standen auf und mein Vater holte den Koran aus einer Schublade, schlug ihn auf und legte seine Hand darauf.
»Hiermit beweise ich dir noch einmal, dass alles, was ich heute zu dir gesagt habe, von Herzen kam. Ich lege meine Hand auf den Koran und Allah ist mein Zeuge, dass ich ehrlich zu dir war und Gott für alles danke, was heute passiert ist.«
»Alles ist gut«, versuchte ich meinen Vater zu beruhigen, der immer noch am ganzen Körper zitterte.
Ashraf hatte schon den Fahrstuhl nach oben geholt und wartete draußen im Flur. Mein Vater wollte mit nach unten kommen, um uns noch schnell seinem Nachbarn vorzustellen. Er war ebenfalls Tunesier, der sich mit seiner Familie so gut es ging um meinen Vater kümmerte und ihn regelmäßig in die Moschee begleitete.
Als wir im Erdgeschoss ankamen, marschierte mein Vater plötzlich mit breiter Brust an uns vorbei und hämmerte mit all seiner Kraft an die Tür des Nachbarn. Aus dem kleinen, hageren, kranken, alten Mann wurde plötzlich, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, der stolzeste Vater der Welt. Ashraf, Arafat und ich mussten anfan-gen zu lachen, weil er einfach so süß aussah mit seinen übertrieben großen Hörgeräten und seinem Krückstock. Es war ein schöner Moment für mich.
Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür, und als der Nachbar uns sah, rief er schnell seine Familie zusammen. Als alle komplett waren, präsentierte mein Vater stolz wie Oskar seinen verloren ge-glaubten Sohn. Natürlich wurden wir auch dort sofort zum Essen eingeladen, aber ich lehnte direkt ab, obwohl wir eine ganze Kuh hätten essen können. Ich nahm meinen Vater noch einmal in den Arm, verabschiedete mich so schnell es ging und verließ das Haus. Ashraf und Arafat kamen kurze
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