Butterbrot
blickte dann wieder auf ihren Kaffee, von dem sie während meiner Erzählung nur hie und da einen Schluck genommen hatte.
Nun gut - man muß ja nicht immer gleich wie aus der Pistole geschossen zurückscherzen, wenn man wo zusammensitzt und plötzlich einer von beiden unverabredet damit anfängt, mit Fremdwörtern um sich zu werfen.
Man muß ja nicht alles immer gleich auf die Waagschale der ewigen Werte legen, die jedem Schweigen und jedem Atemzug sofort finale Bedeutung beimessen möchte - oder?
Was?
Wie?
Vielleicht braucht sie nur ein wenig Stille - dachte ich mir - Stille, um sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, in dem wir gemeinsam trieben wie die Flaschenpost glückseliger Schiffbrüchiger, die eine falsche Positionsangabe ihrer Insel in die Wellen geworfen hatten, damit niemand sie irrtümlicherweise von ihrem Traumparadies der Weltentrücktheit hinwegretten konnte.
Man soll Menschen diese Momente nicht nehmen wollen - dachte ich mir - und begann im selben Augenblick im schweigenden Staunen über unser »Hier und Jetzt« zu versinken.
Venedig -
Nach Venedig fährt man, um Zeit zu haben -An diesem Morgen haben wir viel Zeit - dachte ich -als ich durch die gläserne Pendeltüre in das Bahnhofscafé trat und mich mit ihr an die lange, geschwungene Bar stellte.
Die Theke wird alle fünf Minuten mit einem Tuch abgewischt und ist immer sauber und immer eine Einladung, Zeit zu haben und anzukommen, den ersten Cafe-Latte zu trinken und die Nachtfahrt im Zug abzustreifen.
Nur Anfänger sausen sofort zu den Taxibooten und rasen zum Markusplatz oder zum Hotel oder in eine Galerie.
Nach Venedig kommt man, um Zeit zu lernen - und die erste Übung ist, am Bahnhof zu bleiben, sich hinzusetzen und einen ersten Kaffee zu trinken - ein Mineralwasser, in dem eine Zitronenscheibe schwimmt, und vielleicht ein kleines »Dolce«.
Ich liebe diese weichen Teigkrapfen, die mit Vanillecreme gefüllt sind und einen Hauch Zucker auf ihrem braunen Rücken tragen, man muß sie langsam essen, damit die Vanillecreme nicht zu schnell herausquillt und auf das Hemd tropft -
Das ist die zweite Übung im Zeithaben - der langsame, vorsichtige Biß in den Vanillekrapfen, der einen Geduld lehrt. Am besten beißt man in ihn hinein, indem man gleichzeitig einatmet und auf diese Weise Riechen und Schmecken zu einem Akkord verbindet, der ein Sandkorn voller Glück sein kann.
Wenn man auf diese Weise eingetreten ist, ergeben sich aus diesem ersten, langsamen Schritt wie von selbst alle anderen, die man in dieser Stadt tun wird -wie von selbst klinkt man sich auf diese Weise aus dem Rhythmus der Wahnsinnigen aus, die mit weißen Hüten und kurzen Hosen entehrend an den Aufforderungen zum Innehalten vorbeidröhnen, die hier ausschließlich zu finden sind.
Das Ganze hier ist ein Denkmal des Zeithabens, ein Denkmal des anderen Lebens, das möglich sein könnte - ein Denkmal, das den Ankommenden umarmt und in die Mitte stellt - sich betrachten läßt und gleichzeitig im Rücken ist, wenn man sich umdreht -da gibt es kein Ziel und keine Route, keinen Hauptausgangspunkt und kein Finale - das Zentrum ist das Ganze - auch wenn das Ganze so weise ist und sich mit diesen Tauben in der Mitte als Mittelpunkt tarnt, um die Eiligen abzusaugen auf den Sammelplatz ihrer Hast und Ungeduld.
Man soll sie ruhig laufen lassen, denke ich mir - wie wir wissen, haben ja Erklärungen nie einen Sinn, da sie ohnehin nur der versteht, der sie begreift - und die anderen hören nur Worte, aber keine Empfehlung. »Wer Eile hat - der mache einen Umweg« - und der erste schöne Umweg ist ein Zuckerkrapfen mit heißem Kaffee und einem Mineralwasser an der Bar.
Sie schweigt und hat den Löffel neben ihre Tasse gelegt, und ich schaue ihr zu.
Wer ist dieser Mensch, wer ist diese Frau, mit der ich hier in Venedig sitze und Zeit habe, während draußen auf dem Bahnsteig Hunderte panischer Gruppenreisender auf abfahrende Züge hechten und schon längst den Namen der Stadt vergessen haben, aus der sie sich entfernen - wer ist sie?
Wir sind hierher gekommen, um dem Anfang unserer Geschichte ein Anführungszeichen zu geben - ein heiteres, liebevolles, zärtliches, ironisches, augenzwinkerndes Anführungszeichen an den Anfang einer Geschichte> von der wir beide spüren, daß sie seit einer Woche unabwendbar geworden ist - seit dem Tag vor einer Woche, an dem ich sie zum ersten Mal gesehen habe.
Es war ein Dienstag, und ich bin, wie so oft, vor einem Spielwarengeschäft
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