Byrne & Balzano 1: Crucifix
letztes Mal: »Ich mach dir Cornflakes, Mama.«
Mama?
Jessica öffnete langsam die Augen. Die Morgensonne drang von allen Seiten ins Zimmer – kleine, gelbe Dolche, die sich in ihr Hirn bohrten. Es war gar kein Gangster. Es war ihre dreijährige Tochter Sophie, die auf ihrer Brust saß. Das zarte Blau ihres Nachthemds hob den roten Schimmer auf ihrem Gesicht hervor und bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem kastanienbraunen Lockenkopf. Jetzt bekam alles einen Sinn. Jetzt verstand Jessica, warum eine so schwere Last ihr Herz beschwerte und warum der grausame Mann in dem Albtraum sich ein wenig wie Elmo angehört hatte.
»Cornflakes, Liebling?«
Sophie Balzano nickte.
»Was ist mit Cornflakes?«
»Ich hab dir Frühstück gemacht, Mama.«
»Ach ja.«
»Jajaja.«
»Ganz allein?«
»Jajaja.«
»Du bist wirklich ein großes Mädchen!«
»Jajaja!«
Jessica schaute ihre Tochter ernst an. »Hat Mama dir nicht verboten, auf den Schrank zu klettern?«
Sophie bediente sich verschiedener Ausweichmanöver und versuchte, schnell eine Geschichte zu erfinden, die erklären könnte, wie sie die Cornflakes aus dem Hängeschrank geholt hatte, ohne auf den Unterschrank zu klettern. Schließlich schenkte sie ihrer Mutter nur einen entzückenden Augenaufschlag, und damit war die Diskussion wie jedes Mal beendet.
Jessica musste lächeln. Sie malte sich das Chaos in der Küche aus. »Warum hast du mir Frühstück gemacht?«
Sophie verdrehte die Augen. War das nicht sonnenklar? »Du musst an deinem ersten Schultag frühstücken!«
»Stimmt.«
»Das ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!«
Sophie war natürlich noch viel zu jung, um zu begreifen, was es bedeutete, zur Arbeit zu gehen. Seit ihrem ersten Ausflug in die Vorschule – einer teuren städtischen Einrichtung namens Educare – ging ihre Mutter nach Sophies Verständnis jedes Mal zur Schule, wenn sie für längere Zeit das Haus verließ.
Als der Morgen die Schwelle des Bewusstseins berührte, löste die Angst sich auf. Jessica wurde nicht von einem Kriminellen in Schach gehalten – ein Albtraum, der ihr in den letzten Monaten vertraut geworden war. Sie lag in den Armen ihrer wundervollen Tochter. Sie waren zu Hause, in der mit einer hohen Hypothek belasteten Doppelhaushälfte im Nordosten Philadelphias; ihr Cherokee, der mittels eines hohen Kredits finanziert worden war, stand in der Garage.
Sicherheit.
Jessica streckte den Arm aus und schaltete das Radio ein, als Sophie sie fest umarmte und ihr einen dicken Kuss gab. »Es ist schon spät!«, sagte Sophie, ehe sie aus dem Bett auf den Boden rutschte und durchs Schlafzimmer rannte. »Komm, Mama.«
Als Jessica ihre Tochter um die Ecke verschwinden sah, glaubte sie, in ihren neunundzwanzig Lebensjahren noch nie so froh gewesen zu sein, den neuen Tag zu begrüßen, endlich den Albtraum abgeschüttelt zu haben, der sie quälte, seitdem sie wusste, dass sie zum Morddezernat versetzt worden war.
Heute war ihr erster Tag als Detective. Sie hoffte, es war zugleich der letzte Tag, der ihr diesen Albtraum bescherte. Irgendwie zweifelte sie daran.
Detective.
Obwohl sie fast drei Jahre bei der Verkehrspolizei gearbeitet und die ganze Zeit eine Schutzweste getragen hatte, wusste sie, dass es die exklusiveren Dezernate wie Diebstahl, Rauschgift und Mord waren, bei denen das wahre Prestige dieser Dienstbezeichnung zum Tragen kam.
Ab heute gehörte sie zur Elite. Ab heute war sie eine Auserwählte. Von allen Detectives der Polizei in Philadelphia mit den goldenen Streifen waren die Männer und Frauen der Mordkommission so etwas wie Götter. Etwas Höheres konnte man als Hüter des Gesetzes gar nicht anstreben. Es stimmte natürlich, dass bei allen Ermittlungen Leichen auftauchten, vom Diebstahl bis zum Einbruch, von misslungenen Drogendeals bis zu außer Kontrolle geratenen, häuslichen Streitereien, aber sobald kein Puls mehr zu spüren war, griffen die Kollegen anderer Dezernate zum Hörer und riefen die Mordkommission an.
Ab heute würde sie für diejenigen sprechen, die nicht mehr für sich selbst sprechen konnten.
Detective.
»Möchtest du von Mamas Cornflakes abhaben?«, fragte Jessica. Sie hatte ihre große Schüssel fast halb geleert – Sophie hatte ihr fast das ganze Paket eingeschüttet –, und allmählich verwandelte sich alles in eine zuckrige Pampe.
»Nee danke«, murmelte Sophie, die sich den Mund voll Kekse gestopft hatte.
Sophie saß gegenüber von Jessica am Küchentisch und malte eifrig mit
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